Coopérative d’Ateliers in Basel stellt Wohnhaus für Künstler fertig

Haus ohne Heizung

Der Architekt Heinrich Degelo hat mit dem kürzlich eröffneten Wohnatelierhaus in der Erlenmatt Ost in Basel gleich zwei eigentlich undenkbare Dinge auf einmal geschafft: Das Gebäude kommt ohne Heizung aus, und der Mietpreis beträgt nur zehn Franken pro Quadratmeter und Monat.

Von Stefan Breitenmoser | Bilder: Stefan Breitenmoser, Barbara Bühler, Peter Burri | Mai 2019

«Die schwierigen Projekte reizen mich immer», meint der Architekt Heinrich Degelo. Dass dies keine Floskel ist, hat er schon mit diversen Bauten wie dem Basler Messeturm, dem Kunstmuseum Liechtenstein, der Universitätsbibliothek im badischen Freiburg, der Renovation der St. Jakobshalle oder der Modernisierung des Davoser Kongresszentrums bewiesen. Doch beim eben fertiggestellten Wohnatelierhaus in der Erlenmatt Ost unweit des Badischen Bahnhofs in Basel war die Herausforderung nicht unbedingt eine architektonische. Denn von aussen wirkt das Gebäude – abgesehen von der verspielten Holzbalustrade – eher unspektakulär. Aber das Haus hat es im wahrsten Sinn des Wortes in sich.
Einerseits handelt es sich nämlich um das erste Gebäude der Schweiz, das komplett ohne Heizung auskommt und trotzdem während des ganzen Jahrs über eine angenehme Temperatur verfügen soll. Andererseits hat sich Degelo vorgenommen, etwas gegen die ständig steigenden Mietpreise zu tun. «Heute können sich nicht mehr alle Wohnraum leisten. Dieses Problem können wir allerdings nicht nur den Gemeinden und der Öffentlichkeit überlassen, sondern auch wir als Architekten müssen eine Antwort darauf haben», findet Degelo. Deshalb hat er für die Künstlergenossenschaft Coopérative d’Ateliers ein neuartiges Wohnbaukonzept entwickelt, das es erlaubt, Wohn- und Arbeitsflächen für rund die Hälfte des üblichen Mietpreises anzubieten.

Vorbild Easyjet
Wie ist dies möglich? «Grundsätzlich wollten wir alles anders angehen. Deshalb haben wir uns nicht gefragt, was man weglassen oder günstiger machen kann, sondern geschaut, was es überhaupt braucht», erklärt Degelo. Insofern habe man sich an der Fluggesellschaft Easyjet ein Beispiel genommen, die das Fliegen auf das absolut Notwendige beschränkt hat. Dabei sei man zum Schluss gekommen, dass der Mensch vor allem einen gesicherten Ort benötigt, der klimatisiert ist. «Ansonsten braucht es relativ wenig. Denn es braucht keine Spannteppiche und keine Geschirrspüler.»
Die Wohnateliers in der Erlenmatt kommen deshalb roh und einfach daher. Die Innenwände sind unverputzt, Böden und Decken sind aus Beton. Raumteilende Wände sucht man vergebens. Selbst ein Bad oder eine Küche gibt es nicht. Dafür verfügt jedes Atelier über einen Sanitärblock, der sich aus Küchen- und Badelementen zusammensetzt, und einen zentralen Anschluss für Elektro und Wasser. Den Sanitärblock können die Bewohnerinnen und Bewohner flexibel platzieren. Auch der übrige Innenausbau bleibt ihnen komplett überlassen. «Jeder kann seine Wohnung so gestalten, wie es ihm passt», meint Degelo. Wer mag, kann ganz auf Wände oder Bodenbeläge verzichten.

Die Künstlerinnen und Künstler übernehmen die Ateliers ohne jegliche Innenausstattung. Der Sanitär- und Küchenblock lässt sich frei bewegen und über einen Schlauch an der
Decke an die Leitungsstränge anschliessen.

Auf der einen Seite des Versorgungsblocks sind WC, Lavabo und Dusche angehängt, auf der anderen Seite die Küchenelemente.

Bei hohen CO2-Werten öffnen Fenster und Balkontüren automatisch.

Modulares Grundrisssystem
«Heute sind die meisten Wohnungsgrundrisse standardisiert und immer noch für eine Familie mit zwei Kindern ausgelegt. Aber die gibt es ja schon lange nicht mehr – oder nur noch sehr selten», so der Architekt. Deshalb würden die meisten Wohnungen nicht mit den effektiven Bedürfnissen übereinstimmen. Beim Wohn­atelierhaus ist die Grundlage ein modulares Grundrisssystem. «Hier kann man die Wohnung verändern, das ist der grosse Vorteil. Wenn jemand beispielsweise als Student einzieht und später vielleicht noch Partner und Kinder dazukommen, kann man Zwischenwände und ein zweites Badezimmerelement ein- und dann allenfalls wieder abbauen. Man kann hier also von der Studentenbude über die Familienwohnung bis zum Wohnen im Alter alles verwirklichen – auch Arbeiten und Wohnen am gleichen Ort.»
Der Anspruch an das Wohnatelierhaus sei gewesen, etwas zu bauen, das wenig kostet und maximale Freiheit gewährleistet. «Trotzdem wollten wir etwas Ökologisches und keine Energieschleuder», sagt Degelo. Deshalb habe man beschlossen, das vierstöckige Gebäude ohne Heizung zu konzipieren. Das erstaunt, doch Degelo winkt ab. «Das Prinzip ist nicht wirklich neu. Die Stiftsbibliothek in St. Gallen kommt ja auch ohne Heizung aus. Trotzdem hat man so gute Bedingungen für die uralten Bücher, dass sie bis heute von keinem Archiv übertroffen werden.» Das Prinzip sei also jenem der Stiftsbibliothek nicht unähnlich, und dieses lautet vor allem: dicke Mauern und ein reduzierter Fensteranteil.

Hochisolierender Backstein
So sind beim Wohnatelierhaus die Aussenmauern rund 80 Zentimeter dick. Sie bestehen aus je einer 36 Zentimeter und einer 42 Zentimeter dicken Schicht aus Poroton-Backsteinen. Diese werden versetzt im Verbund angeordnet, damit die Aussenwände aus dem löchrigen Poroton auf die ganzen vier Stockwerke tragend sind. «Man kann den Poroton-Backstein mit einer Rayon-Schokolade vergleichen. Durch die vielen Löcher ist er noch einmal besser isolierend. Allerdings hat er einen tiefen Tonanteil, und deshalb trägt er nicht so gut wie andere Backsteine», so Degelo. Verputzt sind die Aussenwände innen mit einer Kalkschlämme und aussen mit einem Kalk-Zement-Verputz, also rein mineralisch.
Der Fensteranteil wurde ebenfalls reduziert, wirkt aber nicht so, da die dreifach verglasten Fenster hochliegend angeordnet sind. «Es sind ja Ateliers, und man hat gerne Licht. So ist die Lichtverteilung optimal, da das Licht tief in den Raum fällt. Ausserdem gibt es dank den hochliegenden Fenstern eine viel bessere Gleichmässigkeit des Lichtes, und man hat länger das Gefühl, es sei hell», erläutert Degelo. Die tatsächliche Wärme entsteht aber einzig durch die Abwärme der Elektrogeräte, Lichtinstallationen und Menschen und durch die Einstrahlung des Tageslichts. Im Sommer sorgen die tiefen Laibungen und die südwestseitigen Balkone für ein angenehmes Klima. «Wir haben alles simuliert. Sogar wenn es draussen über längere Zeit sehr kalt ist, ist es im Innern immer noch warm», verspricht Degelo.

Lüftung entscheidend
Das A und O ist aber die Lüftung, die fast das einzige Stück Hightech ist, das man im Wohn­atelierhaus findet. «In der Stiftsbibliothek wissen die Mönche, dass man kurz lüften muss, wenn eine grössere Gruppe Menschen drin war. Das ist die ganze Regulierung, die es dort hat», erklärt Degelo. Eine solche mönchische Disziplin könne man aber von den Künstlern im Haus nicht verlangen. Deshalb verfügen alle Wohnateliers über ein kleines CO2- und Temperaturmessgerät. Dieses sorgt dafür, dass sich bei zu hohen CO2-Werten und Temperaturen zum Hof hin die Fenster und Balkontüren automatisch öffnen und schliessen. Auf der hinteren Seite, wo sich die Autobahnauffahrt befindet, sind es hingegen schallgedämmte Lüftungsklappen. Die Türen zum Balkon hin können aber jederzeit auch manuell geöffnet werden.
«Jedes Gebäude ist ein Prototyp, da es anders steht. Deshalb müssen wir schauen, ob wir die Belüftungszeiten kürzer oder länger oder gar von anderen Parametern abhängig machen», meint Degelo, der sich vorgängig auch das Haus «2226» im Vorarlberg angeschaut hat, das ebenfalls ohne Heizung auskommt. Doch handelt es sich dabei um ein Bürogebäude, das viel mehr Abwärme produziert. Aus diesem Grund wird die Hochschule Luzern die Entwicklung in Basel begleiten und allenfalls die Regulierung justieren. «Zusätzlich haben wir auch die Bewohner sensibilisiert und sie gebeten, Rückmeldung zu geben, falls es zu heiss oder zu kalt ist.» Wie alle Gebäude in der Erlenmatt Ost verfügt das Haus über eine Solaranlage auf dem Dach und eine Luftwasserwärmepumpe fürs Warmwasser.

Das Quartier Erlenmatt Ost in Basel wächst und wächst. Das Atelierhaus befindet sich hier im Bauzustand am linken unteren Bildrand.

Künstlertraum geht in Erfüllung
Mit Baukosten von etwas über vier Millionen Franken war das Unterfangen verhältnismässig günstig. Auf einen Keller wurde aus Kostengründen verzichtet. Das Land hat die Coopérative d’Ateliers von der Stiftung Habitat im Baurecht erhalten. Die 36 Künstler, die künftig die fünf Einerateliers im Erdgeschoss und die zwölf Zweierateliers in den drei darüberliegenden Etagen bewohnen und bespielen, kennt Degelo alle persönlich. Er war es gar, der die Schaffung einer Genossenschaft vorgeschlagen hat – und steht ihr heute auch als Präsident vor. Die Künstler wollten ursprünglich ihren Wunsch, Wohnen und Arbeiten an einem Ort zu verbinden, im Eigentumswohnungsstandard verwirklichen. «In einer Genossenschaft können die Künstler eine Gemeinschaft bleiben und auch bei einem Auszug eines Bewohners mitbestimmen, wer danach einzieht.»
Für die 36 Künstler dürfte damit ein Traum in Erfüllung gehen. Denn viele gehen trotzdem noch einem «Brotjob» nach. Nun müssen sie zumindest nicht mehr zwischen Atelier, Wohnung und Job pendeln und können so ihrer Kunst mehr Zeit widmen. «Für viele ist es ein lange gehegter Wunsch, morgens in ihrer Kunst zu erwachen und abends bei einem Glas Wein vielleicht nochmals ins Atelier zu sitzen», so Degelo. Die Ateliers, die vom Wohnbereich vorerst durch keine Wand getrennt sind, sind auf der hinteren Seite Richtung Autobahn angedacht. Denn beim Arbeiten dürfte der Lärm, der aber kaum in die hohen Räume dringt, weniger stören als beim Wohnen.

Ein gewisser Kompromiss
Heinrich Degelo selbst freut sich vor allem, dass das Wohnatelierhaus auf so eine grosse Nachfrage gestossen ist. Die Ateliers sind nämlich alle vermietet, und es gibt mittlerweile gar eine Warteliste. Ausserdem ist er gespannt, wie die Bewohner sich nun einrichten und die Freiheiten nutzen, die ihnen die einfach ausgestatteten Wohnateliers gewähren. Auch wie die Künstler das Zusammenleben organisieren, bleibe abzuwarten. Gemeinschaftsräume wird es aber spätestens ab nächstem Jahr im Silo nebenan geben, wo auch ein Gastrobetrieb und ein Hotel geplant sind.
Besondere Freude hat der Architekt auch an der Holzbalustrade des befreundeten Künstlers Andres Bally, der hierfür extra im Wald Eichenholz gespalten hat. «Es ist quasi die Dekoration des Gebäudes, und mich freut, dass es noch ein verspieltes Element dran hat», so Degelo. Ansonsten sei das Wohnatelierhaus schon mit einem gewissen Kompromiss verbunden. «Ich hätte mir natürlich viel tollere und schickere Lösungen vorstellen können, als wir jetzt realisieren konnten. Aber wenn es darum geht, ein Ziel zu erreichen, muss man schauen, womit man leben kann. Und ich finde, diese Lösung ist vertretbar – vor allem als Wohnatelier.» Ausserdem stehe es jedem frei, noch ein bisschen nachzubessern.

Suche nach Grundstücken
Das Ziel wurde jedenfalls erreicht. Denn die Flächen kosten auch nach einer Nachkalkula­tion tatsächlich nur zehn Franken pro Quadratmeter und Monat. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass laut den Wohnraum­indikatoren des Statistischen Amts in Basel-Stadt aktuell für eine Zweizimmerwohnung im Schnitt 1367 Franken und für eine Vierzimmer-wohnung 2175 Franken Monatsmiete verlangt werden. Dabei unterscheidet die Statistik nicht einmal zwischen Alt- und Neubau. Die Mieten für Letzteren dürften durchschnittlich deutlich höher liegen.
Das Haus in der Erlenmatt ist ein Prototyp. Um das Konzept weiterzuverbreiten, hat der Architekt zusammen mit Gleichgesinnten die Genossenschaft Homebase gegründet (www.homebase.swiss). Nun ist man intensiv auf der Suche nach Grundstücken, auf denen sich weitere Projekte realisieren liessen. «Ich hoffe, dass wir bald ein geeignetes Landstück finden, das man idealerweise im Baurecht übernehmen könnte. Wir suchen in der ganzen Deutschschweiz. Da es aber eine urbane Idee des Wohnens ist, eher in Zentrumslagen», erklärt der Architekt. Man kann also nur hoffen, dass ihm das gelingt. Denn gegen erschwinglichen Wohnraum, der maximale Freiheit gewährleistet und noch ökologisch ist, dürfte niemand Einwände haben.

Der Beitrag erschien zuerst im «Baublatt» 10/2019.