Wohnbaugenossenschaft Linde in Steckborn (TG) stellt Neubausiedlung fertig

«Wir haben den Wählerwillen umgesetzt»

In Steckborn spricht man von einem Jahrhundertprojekt: Der Thurgauer Gemeinde bot sich die Gelegenheit, ein zentrales Grundstück umzunutzen. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sprachen sich dabei für eine genossenschaftliche Überbauung aus. Darauf gründeten sieben Stadträte als Privatpersonen die Wohnbaugenossenschaft Linde. Seit Oktober geniessen nun die ersten Genossenschafterinnen und Genossenschafter ihren Ausblick auf den Untersee.

Von Thomas Bürgisser | Bilder: Thomas Bürgisser | Dezember 2020

Am Rande des 8300 Quadratmeter grossen Grund­stücks inmitten von Steckborn steht eine mächtige alte Linde. Sie ist eine beständige Zeitzeugin, während auf dem Linden­areal, dessen Namensgeberin sie ist, in den letzten Jahren kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Früher war hier eine Stickerei, später nutzten unter anderem Freizeitclubs und Kindergarten Teile der Gebäude. 2006 verkauften die Schul- und die Kirchgemeinde ihre Anteile der dritten Eigentümerin, der politischen Gemeinde. Sie wurde damit Besitzerin eines äussert attraktiven Grundstücks, in direkter Nachbarschaft zur Schule und zum Zentrum der Thurgauer Gemeinde, wenige Gehminuten von Bahnhof und Einkaufsmöglichkeiten entfernt und mit Blick auf den Untersee.
Eine Gelegenheit, von der die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger langfristig profitieren wollten: Sie schlossen einen Landverkauf aus und sprachen sich in einer Umfrage für altersdurchmischtes, bezahlbares und genossenschaftliches Wohnen aus. «In Steckborn ist der Wohnraum vor allem für Familien eher knapp. Wir haben viele ältere Wohnungen zu vergleichsweise hohen Mieten und viele Häuser, in denen nur eine oder zwei Personen wohnen», beschreibt Gregor Rominger, ehemaliges Stadtratsmitglied von Steckborn, den hiesigen Wohnungsmarkt.

Stadträte werden selbst aktiv
Mit diesen Erkenntnissen im Rücken führte die Gemeinde 2014 einen zweistufigen Architekturwettbewerb durch. Die Hauptvorgabe war, dass sich die neue Struktur harmonisch ins Gesamtbild mit der angrenzenden historischen Altstadt einfügt. Weiter wurden der generationenübergreifende wie auch der genossenschaftliche Aspekt, aber auch eine hohe Energieeffizienz sowie eine gewerbliche Teilnutzung verlangt. Der siegreiche Beitrag, erkoren von einer achtköpfigen Jury mit politischen Vertretern sowie Architekturfachpersonen, stiess auch in der Bevölkerung auf grosse Akzeptanz, was sich in neunzig Prozent Ja-Stimmen zur Umzonung zeigte.
«Mit der Absicht, die Realisierung einer Genossenschaft zu übergeben, gründeten wir sieben Stadträte daraufhin als Privatpersonen im Dezember 2015 ausschliesslich für dieses Projekt die Wohnbaugenossenschaft Linde, mit der die Gemeinde ein halbes Jahr später den Baurechtsvertrag abschloss», führt Gregor Rominger aus, nun Präsident dieser Woba Linde. Etwas weniger reibungslos verlief die Finanzierung des Bauvorhabens. Rund 29 Millionen Franken Kosten wurden projektiert. Die Gemeinde sollte dafür ein 10-Millionen-Darlehen bei der kantonalen Pensionskasse aufnehmen und zum gleichen Zins an die Genossenschaft weiterverleihen. Doch dieser Plan stiess als bisher einziges Begehren der Woba Linde an der Gemeindeversammlung auf Ablehnung, was für ein Jahr Verzögerung sorgte.

Blick auf die Eingangsseite.

Die Wohnungen unterscheiden sich auch in Bezug auf die privaten Aussenräume.

Breit abgestützte Finanzierung
Kurz nach dem Negativentschied meldete sich jedoch Martin Kull, CEO und Mitinhaber der Immobiliendienstleisterin HRS Real Estate AG: «Er und seine Frau Rebecca Kull standen kurz vor dem Umzug nach Steckborn und hatten aus den Medien vom Entscheid der Gemeindeversammlung erfahren. Sie boten uns Hilfe an, eruierten weiteres Sparpotential und garantierten mit der HRS als Totalunternehmung eine maximale Bausumme von 26 Millionen Franken.» Mit Genossenschaftsanteilen, privaten Darlehen, Geld aus dem Solidaritätsfonds von WBG Schweiz (450 000 Franken) und dem Fonds de Roulement (675 000 Franken) sowie einer 2-Millionen-Franken-Bürgschaft der Hypothekar-Bürgschaftsgenossenschaft kam man auf genügend Eigenkapital, so dass die Luzerner Kantonalbank die restlichen rund zwei Drittel finanzierte.
Die HRS übernahm nun die Bauführung, ein neues Architektenteam wurde mit der Projektausarbeitung und der Detailplanung beauftragt. Am 1. November 2018 feierte man den Spatenstich, ab Mitte September 2020 konnten die ersten Mieter ihre neuen Wohnungen beziehen – trotz Corona sogar einige Tage vor dem im TU-Vertrag garantierten Bezugstermin. Insgesamt entstanden 48 Wohnungen, verteilt auf vier Mehrfamilienhäuser, die sich um einen Innenhof gruppieren, und in unterschiedlichen Formen und Höhen. «Bereits während der Projektausarbeitung wurde darauf geachtet, dass die Nachbarn nicht zu sehr beeinträchtigt werden; den gesetzlichen Mindestabstand haben wir mancherorts grosszügig erweitert und von der erlaubten Geschossigkeit teilweise abgesehen. Damit nutzen wir zwar das Grundstück nicht ganz aus, konnten aber verzögernde Einsprachen verhindern.»

Hoher energetischer Standard
Auch die Grundrisse der Wohnungen sind ganz unterschiedlich, was sich in der Raumaufteilung, aber auch in der Grösse der Loggias zeigt. Die 4 ½- und die 5 ½-Zimmer-Wohnungen verfügen ausserdem über jeweils zwei Badezimmer. Die Küchen wiederum sind hochwertig, aber nicht luxuriös: So haben zwar alle Wohnungen einen Induktionskochherd, ein Kombisteamer aber findet sich nur in den grösseren Wohnungen. Einen Waschturm sucht man sogar in allen Wohnungen vergebens. Den teilen sich jeweils drei bis vier Parteien in der Waschküche.
Verzichtet wurde auch auf eine automatische Lüftung: «Ebenfalls um Kosten zu sparen, und weil dann doch immer alle die Fenster ­öffnen», begründet dies Gregor Rominger. ­Abgesehen davon entspreche der Bau dem Minergie-P-Standard, von Fördermitteln aber profitierte man nicht. Geheizt wird mit Erd­sonden-Wärmepumpe, und auf den Flach­dächern finden sich Photovoltaikmodule. Letztere waren eigentlich auch dem Rotstift zum Opfer gefallen: «Jetzt vermieten wir die Dachflächen für 2000 Franken jährlich an den Verein Solarstrom-Pool Thurgau.» Mit einer Solar­fläche von fast 1000 Quadratmetern wird eine totale Leistung von 179 Kilowatt Peak erzielt, wobei rund ein Viertel der Anlage über den Solarstrom-Pool an Externe zur Beteiligung angeboten wird. Die restliche Fläche ist für die Woba Linde reserviert: 25 bis 35 Prozent des hier produzierten Solarstroms will man möglichst direkt selbst nutzen.

Die Grundrisse der 48 Wohnungen sind allesamt unterschiedlich. Teilweise bietet sich den Bewohnerinnen und Bewohnern aus den grossen Fenstern ein Ausblick auf den Untersee.

Noch Familien gesucht
Abhängig sein dürfte dies auch von der zukünftigen Mietauslastung, die aktuell noch nicht komplett ist. Per 1. Oktober waren 30 der 48 Wohnungen vermietet. Während die kleineren Einheiten bei älteren Personen grossen ­Anklang fanden, geht es bei den grösseren Wohnungen langsamer voran – was bezüglich entgangener Mietzinse auch mehr schmerzt: Während eine 2 ½-Zimmer-Wohnung 1090 bis 1330 Franken netto kostet, bezahlt man für eine 5 ½-Zimmer-Wohnung 1980 bis 2290 Franken. Dies seien leicht unterdurchschnittliche Mieten für die Region, so der Woba-Linde-Präsident. Hinzu kommt nebst einem Genossenschaftsanteil à 500 Franken ein Wohnungsanteilschein von 3000 Franken pro ganzem Zimmer.
«Wahrscheinlich wären wir bezüglich Vermietung mit mehr kleineren Wohneinheiten einfacher gefahren», sagt Gregor Rominger. «Wir haben aber den Wählerwillen mit generationenübergreifendem Wohnen umgesetzt.» Entsprechend versucht man auch weiterhin, bei grösseren Wohnungen gemäss den Belegungsvorschriften möglichst auf Familien zu fokussieren. «Wobei wir hier auch flexibel bleiben müssen.» Gleiches gilt für die 1200 Quadratmeter Gewerbefläche, welche die Woba Linde vermietet. Die Kantonspolizei stand von Beginn an als Mieter fest, auch Physiotherapie wird auf dem Lindenareal neu angeboten. Noch nicht zustande gekommen ist ein geplantes Gesundheitszentrum. Und so ist man auch hier noch mit Hochdruck auf der Suche nach alternativen Mietern.

Innenhof als Begegnungszone
Es sei jedoch alles so budgetiert, beruhigt Gregor Rominger, der zuversichtlich ist, dass es sich bis im Frühling einpendelt – und dann auch das genossenschaftliche Leben richtig losgeht. Dieses war schon in der Planungsphase Thema: Judith Kern, zuständig für das Ressort Soziales im Vorstand der Woba Linde, schrieb 2017 sogar ihre Masterarbeit dazu. «Bei der Befragung wünschten sich damals viele Wohnungsinteressenten ein Genossenschaftsleben, jedoch auf Freiwilligenbasis», führt sie aus. Nach dem Einzug sucht Judith Kern nun erneut mit allen das Gespräch und versucht, gemeinsame Interessen zusammenzubringen. «Nähkurse, gemeinsam backen, Kinder hüten oder ab und an ein gemeinsames Essen: Das sind ein paar der Ideen, die bereits zusammengekommen sind.»
Organisieren aber müssten sich die Bewohnenden selbst – «wir vermitteln, unterstützen und stellen den Raum zur Verfügung.» Dazu zählen ein Gemeinschaftsraum mit Küche, in dem bald auch ein Kennenlernessen geplant ist, oder der grosszügige Innenhof zwischen den Häusern. In die Begegnungszone wird dank verbindenden Wegen zwischen Quartieren auch die Umgebung mit einbezogen. Auch Spielbereiche für Kinder, Gartenbeete für Hobby­gärtner und gemütliche Plätze zum gemeinsamen Verweilen werden nicht fehlen. Zum Beispiel unter den jungen Linden, die neu gepflanzt wurden.

Baudaten

Bauträgerin:
Wohnbaugenossenschaft Linde,  Steckborn
Architektur (Entwurf):
Ramser Schmid Architekten GmbH,  Zürich
Architektur (Ausführung):
Beat Oberhänsli Architektur AG,  Bottighofen
Totalunternehmung:
HRS Real Estate AG, Frauenfeld
Umfang:
4 MFH, 48 Wohnungen (13 2 ½-, 14
3 ½-, 16 4 ½-, 5 5 ½-Zimmer-Wohnungen), rund 1200 m2 Gewerbefläche,
72 Tief­garagenplätze Gemeinschaftsraum mit Küche, Lagerräume

Baukosten (BKP 1–5):
26 Mio. CHF total
5200 CHF/m2 HNF
Mietzinse (Bandbreite):
2 ½-Zimmer-Wohnung:
1090 bis 1330 CHF plus 125 CHF NK
3 ½-Zimmer-Wohnung:
1470 bis 1620 CHF plus 150 CHF NK
4 ½-Zimmer-Wohnung:
1610 bis 2150 CHF plus 200 CHF NK
5 ½-Zimmer-Wohnung:
1980 bis 2290 CHF plus 250 CHF NK