Wandbilder bringen Farbe an Genossenschaftsbauten

Die Hausfassade als Leinwand

Schon vor hundert Jahren schmückten Wohnbaugenossenschaften ihre Gebäude mit Wandbildern. Auch heute entstehen an Gebäudefassaden wieder riesige Kunstwerke. Zum Beispiel im luzernischen Kriens, wo das Künstlerduo QueenKong jüngst einem Mehrfamilienhaus ein neues Gesicht verpasste.

Text: Patrizia Legnini | Bilder: Roberto Conciatori, Vero Schmid, Commons Wikimedia AnBuKu | April 2023

in Mehrfamilienhaus an der Zumhofstrasse im luzernischen Kriens zieht seit letztem Herbst alle Blicke auf sich. An seiner Fassade prangt ein riesiges Wandbild, auf dem zwei Kinder zu sehen sind: Sie bemalen eine Backsteinwand mit Strichfiguren, die sich gegenseitig an den Händen halten. Während das kleine Mädchen im Vordergrund mit einem Malerroller weisse Farbe aufträgt, malt das Kind daneben den Figuren ein breites Lächeln ins Gesicht.
Viele Jahre lang befand sich die Geschäftsstelle der ABK Allgemeine Baugenossenschaft Kriens in einem unscheinbaren Gebäude einer unscheinbaren Wohnsiedlung. Heute ist das riesige Wandbild an seiner Fassade in der ganzen Stadt bekannt. Thomas Steger lächelt, als er über das aussergewöhnliche Kunstwerk spricht. «Das Bild gefällt mir sehr. Vor allem die Details haben es mir angetan», sagt der Geschäftsstellenleiter der ABK. «Ausserdem verändert sich sein Ausdruck je nach Sonnenstand und Wetter.»
Begonnen habe vor drei Jahren alles mit dem Wunsch der Baugenossenschaft, das Gebäude besser zu beschriften. «Nach dem Umbau unserer Geschäftsstelle wollten wir von den Leuten besser gefunden werden.» Anstatt bloss ein neues Schild anzubringen, sei bei der Besprechung des Themas irgendwann die Idee aufgekommen, die Beschriftung durch eine Künstlerin oder einen Künstler gestalten zu lassen.

Die Wandbilder von QueenKong sind in vielen Grossstädten zu sehen. Heute prangt eines auch an einem Mehrfamilienhaus der ABK in Kriens.

Eigene Werte ins Bild gerückt
Durch einen Street-Art-Wettbewerb der Stadt Luzern wurde Steger auf das Luzerner Künstlerduo Marco und Vero Schmid alias QueenKong aufmerksam, das sich mit verschiedensten Arbeiten in der Schweiz, aber auch im Ausland einen Namen gemacht hat; ihre Wandbilder sind in Luzern, New York, Lima, Hamburg, Berlin und in vielen anderen Städten zu sehen. Die beiden entwarfen mehrere Ideen fürs Motiv, und schon bald stimmte der Genossenschaftsvorstand dem finalen Vorschlag zu. Nach der speditiven Bearbeitung eines vereinfachten Baugesuchs durch die Stadt Kriens erhielt die ABK die Bewilligung.
Im letzten Herbst machten sich die Künstler ans Werk – ausgestattet mit Hebebühne, Malerrollern, Wasserwaage sowie Kübeln voller Mineralfarbe. Diese ist nicht nur für die Umwelt gut verträglich, sondern auch UV-beständig und somit sehr langlebig. Drei Wochen lang arbeitete das Paar am Bild, und immer wieder kam es beim Malen mit Kindern und Erwachsenen aus der Siedlung ins Gespräch. «Wir schätzten diesen Austausch sehr», sagt Vero Schmid. «Einmal reichte uns jemand über den Balkon einen Kaffee.»
Das fertige Werk ist riesig, wirkt dank einem speziellen 3D-Effekt aber nicht zu wuchtig. Es ist dem Künstlerpaar ein Anliegen, dass es die Betrachterinnen und Betrachter auf der emotionalen Ebene anspricht, aber auch zum Nachdenken anregt. So haben die beiden auf Wunsch der ABK deren Unternehmensphilosophie ins Motiv integriert, das soziales Miteinander, Gemeinnützigkeit und kostengünstiges Wohnen abbildet, zusätzlich aber auch ihre eigenen Werte. «Wir bauen in unsere Bilder immer Symbole ein, die für uns persönlich eine grosse Bedeutung haben», sagt Vero Schmid. Verewigt wurde neben den verstorbenen Haustieren auch die eigene Tochter – die Vierjährige ist auf dem Bild das Mädchen, unter dessen Baseballcap blonde Locken hervorzwirbeln.

Malerroller und Kübel voller Mineralfarbe: Im Herbst machten sich Marco und Vero Schmid an die Arbeit.

Bedroht von der Abrissbirne
Dass sie das Projekt in Kriens umsetzen konnten, freut die Künstler aus verschiedenen Gründen. Einer ist die Verbundenheit mit Wohnbaugenossenschaften. «Unsere erste gemeinsame Wohnung befand sich in der Siedlung Himmelrich der Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern (ABL). Bevor die Wohnblocks abgerissen wurden, durften wir dort eine Wand gestalten, was eine sehr emotionale Sache war», erinnert sich Marco Schmid. Ein paar Jahre später verschönerten sie für die ABL an der Bernstrasse in Luzern eine weitere Fassade – zusammen mit lauter Seniorinnen und Senioren. Aber auch dieses Kunstwerk fiel bald der Abrissbirne zum Opfer.
Dass viele ihrer Arbeiten nur vorübergehend bleiben dürfen, sind sich die beiden gewohnt. Umso glücklicher macht es sie, dass das Wandbild in Kriens noch zwanzig oder dreissig Jahre bestehen soll. «Es ist im Moment unser einziges Wandbild an einem Genossenschaftsgebäude, das von Dauer ist. Man geht so schon etwas anders an die Arbeit», sagt Marco Schmid. Er betrachtet das Bild als Geschenk für die Allgemeinheit. «Wir sind überzeugt, dass es die Umgebung prägt, und zwar im Positiven.»
Auch Thomas Steger von der ABK findet, dass Wandbilder Siedlungen und Städte attraktiver machen – und dass es mehr von ihnen geben sollte. Zwar hätten sie ihren Preis, weil sie mit sehr viel Arbeit verbunden seien; wie viel die Genossenschaft für das Bild an der Geschäftsstelle bezahlen musste, will er nicht sagen. Dennoch würde er es begrüs-sen, wenn das Beispiel der ABK auch bei anderen Genossenschaften Schule macht.

Schon 1997 entstand an einer Hauswand des Quartierhofs in Bern ein riesiges Wandbild.

Immer mehr Auftragsarbeiten
Schon mehrmals mit Genossenschaften zusammengearbeitet hat in den letzten zehn Jahren das bekannte Graffitikünstlerduo One Truth aus Zürich. Seine Wandbilder mit den typischen farbigen Figuren und Tieren sind mittlerweile in der ganzen Stadt zu sehen, aber auch im Ausland sowie in Museen und Galerien. Zuletzt haben die beiden Brüder im vergangenen September für die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich (ABZ) zur Spraydose gegriffen. Sie hatten die Idee, eine Gebäudewand in der Siedlung Herrlig in Zürich Altstetten zu gestalten, wo sie selbst wohnen – auch diese Siedlung soll in den nächsten Jahren ersetzt werden. Entstanden ist auf einer Fläche von zehn Mal zwölf Metern ein kunterbunter Hund. «Wir wollten der ABZ etwas zurückgeben», sagen die Künstler dazu. Im Rahmen ihrer Arbeit luden sie vor Ort auch Kinder ein, auf einer Plane künstlerisch tätig zu werden.
Marco Schmid von QueenKong hat die Erfahrung gemacht, dass es noch immer recht schwierig ist, Bewilligungen für Wandbilder zu erhalten. Doch auch er hat den Eindruck, dass aufwändige «Murals», wie die Wandbilder auch genannt werden, als Kunstform heute stärker wertgeschätzt werden als bis vor ein paar Jahren – und dass sie immer häufiger als Auftragsarbeiten ausgeführt werden. Um ihren weltoffenen Charakter zu unterstreichen, machen Grossstädte wie Lyon oder Berlin oder auch kleine Orte wie Estavayer-le-Lac im Kanton Freiburg inzwischen ganze Strassenzüge und Quartiere mit Wandbildern zu Attraktionen, die viele Touristen anlocken. Dass die Kunst dadurch kommerzialisiert wird, stört wiederum viele Kritikerinnen und Kritiker.

Im Rahmen eines Workshops schufen Vero und Marco Schmid 2018 mit acht pensionierten Genossenschaftern der ABL ein Wandbild an der Bernstrasse in Luzern.

Indigene Bauern in Bern
Mit einem Kunstwerk Tür an Tür wohnen seit einem Vierteljahrhundert auch die Bewohnerinnen und Bewohner des Quartierhofs in Bern. Das imposante Wandbild an ihrem Wohnhaus wurde 1997 von Colby Blumer und Marc Rudin geschaffen. Rudin, ein Grafiker, hatte in den 1970er-Jahren selbst in der Siedlung gewohnt, die damals noch keiner Genossenschaft gehörte. In den frühen 1980er-Jahren verhinderten die engagierten Bewohnenden durch politische Vorstösse und Aktionen den Abbruch der Liegenschaften.
Das Motiv des Wandbildes, das in der Tradition mexikanischer «Murales» daherkommt, ist raffiniert: Es zeigt indigene Bäuerinnen und Bauern in Südamerika, darunter ein Kind, das seine Hand nach einer Banane ausstreckt. Diese liegt aber auf dem Tablar einer Quarthierhofküche, zusammen mit einer Packung Kaffee, auf der sich das ganze Bild widerspiegelt. «Das Wandbild soll ausdrücken, dass die Produzenten selbst Zugang zu den eigenen Produkten haben sollten», sagt der langjährige Bewohner Paul Wyss.
Obwohl sich ihm zufolge ein Teil der Bewohnerinnen und Bewohner der Genossenschaftssiedlung noch stark mit dem Bild identifiziert, redet man dort inzwischen offen darüber, die Wand bald zu dämmen. «Dann würde das Bild verschwinden. Aber manchmal geht halt etwas zu Ende, und dann beginnt etwas Neues. Wir sind ja nicht der Heimatschutz», sagt Wyss und lacht. Höchstwahrscheinlich würde man nach der Sanierung aber ein neues Wandbild in Auftrag geben. «Abgesehen davon, dass so ein Bild ein Quartier verschönert, gibt es den Leuten auch die Möglichkeit, ihre Sicht der Welt nach aussen zu tragen.»

Von Höhlenmalerei zu Propaganda

Sich an Wänden auszudrücken, scheint den Menschen seit jeher ein Bedürfnis gewesen zu sein. Über die Zeit hinweg haben sich Ausdrucksformen, Motive, Stile und Techniken verändert.

Die Wandmalerei gilt neben der Bildhauerei als älteste überlieferte Kulturleistung der Menschheit. Schon vor über 40 000 Jahren verzierten unsere Vorfahren Felswände von Höhlen mit farbigen Tierbildern, geheimnisvollen Symbolen, Darstellungen von Menschen und Handabdrücken. Wandmalereien haben sich in Grabkapellen der Alten Ägypter erhalten, aber auch auf Palästen im ägäischen Raum; sie spielten in Zentralasien genauso eine Rolle wie in Afrika, Mittelamerika und Europa. Im Mittelalter war das Wandbild vor allem als Teil sakraler Architektur bedeutsam.
Spätestens mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts waren Wandbilder aber nicht mehr nur an Palästen oder Kirchen zu finden, sondern inmitten der Menschen, an die sie sich wandten. Immer häufiger wurden sie als Kampfmittel für politische Propaganda eingesetzt. Eine wichtige Richtung moderner Wandmalerei entwickelte sich mit dem «Muralismo» in Mexiko: In den 1920er Jahren vergab die Regierung Aufträge an Künstler mit dem Ziel, durch monumentale Wandbilder an prestigeträchtigen öffentlichen Gebäuden der grösstenteils analphabetischen Bevölkerung die Geschichte des Landes näherzubringen. Viele Bilder stellten die Arbeiterinnen, Bauern und deren Führer als Helden der Revolution dar. Das Bild unten stammt von Diego Rivera und ist im Palacio Nacional in Mexiko Stadt zu sehen. Der mexikanische Muralismo fand eine weite Verbreitung in ganz Südamerika und den USA.
Im grossen Stil prägten Wandbilder auch viele Städte in sozialistischen Staaten. Und vor allem in konfliktreichen Regionen der ganzen Welt griffen Künstlerinnen und Künstler die Wandmalerei als Protestform auf. Mit Wandbildern und Graffiti machten sie auf soziale und politische Missstände und Probleme aufmerksam, so etwa in Johannesburg oder in Nordirland.

Kunst spielte wichtige Rolle
Auch in der Schweiz entstanden in verschiedenen Epochen viele Wandbilder. Ab 1890 fanden eidgenössische Wettbewerbe statt, wenig später gab es städtische Kunstpreise für die bildnerische Ausschmückung öffentlicher Bauten. Gleichzeitig waren Bahnhöfe eine Plattform für grossformatige Darstellungen von Landschaften mit Werbe- und Dekorationsfunktion. 1939 erreichte die Wandmalerei mit der Landesausstellung in Zürich einen Höhepunkt; sie zeigte, dass die städtischen Auftraggeber vor allem an Darstellungen von bäuerlich-ländlichen Themen interessiert waren. Diese tauchen seit dem ersten Weltkrieg auch als Motive an den Fassaden von Wohnbaugenossenschaften auf.
Schon in den Anfängen der Genossenschaftsbewegung in der Schweiz spielte Kunst eine wichtige Rolle. So war es üblich, künstlerisch gestaltete Brunnen aufzustellen oder Wandbilder an den Wohnhäusern anzubringen. Sie sollten die einfachen Bauten verschönern, aber auch zum Ausdruck bringen, dass alle Menschen ein Recht auf Kunst haben; für viele Mieterinnen und Mieter gehörten die Bilder vermutlich zu den wenigen Kunstwerken, denen sie im Alltag begegneten. Gleichzeitig sollten die Wandbilder die Identifikation der Bewohnerinnen und Bewohner mit ihren Wohnhäusern und der Baugenossenschaft stärken, deren Ideen und Ideologien visualisieren und das Kollektiv auf eine gemeinsame Vision und einen gemeinsamen Weg in eine bessere Zukunft einschwören.

Die Sehnsucht nach Harmonie
Allein in der Stadt Zürich liessen Wohnbaugenossenschaften ihre Fassaden zwischen 1920 und 1950 mit rund 500 Wandbildern schmücken, die heute als wertvolle Zeitzeugen gelten. Zum Teil zeigen sie genossenschaftliche Motive wie den Hausbau. Auffallend ist aber, dass die meisten nicht die Realität der Arbeiterinnen und Arbeiter abbilden, die in den Häusern wohnten. Viel häufiger sind auf den Wandbildern Bauern und Bäuerinnen zu sehen, die auf dem Feld arbeiten, mit Kartoffelsäcken spielende Kinder und Tiere – ländliche Idyllen also, die im Gegensatz zur städtischen Umgebung standen und losgelöst waren vom Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner. Viele von ihnen litten trotz harter Arbeit unter Armut und schlechten Arbeitsbedingungen.
«Sie phantasieren eine Gegenwelt, die gepflastert ist von Vorstellungen, Wünschen und Träumen, welche die Idylle einer bäuerlichen Welt konstruieren, die es so noch nie gegeben hat. Gemäss der Ideologie der Genossenschafter zimmern diese Fassadenbilder die Grundlage des schweizerischen Gesellschaftsgefüges und stehen für die Illusion seines harmonischen Funktionierens», heisst es dazu im Kunstinventar der ABZ zu den Wandbildern in der Siedlung Sihlfeld. Die Genossenschaft liess damals so viele Wandbilder anfertigen wie keine andere in Zürich. Vor fünf Jahren hat die ABZ ein Kunstinventar erstellen lassen, das vierzig Kunstwerke in ihren Siedlungen dokumentiert, und ein Buch zum Thema herausgegeben.
Als die Genossenschaften in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre das Neue Bauen entdeckten, versiegte die Bilderflut an den Fassaden allmählich. In der Folge emanzipierte sich das Kunst-am-Bau-Format und öffnete sich für viele neue künstlerische Praktiken und Formate. Bis heute zählen viele Wohnbaugenossenschaften die Kunstförderung zu ihrem Auftrag. In Zürich verpflichten sich Baugenossenschaften und andere, die Bauland von der Stadt im Baurechtsvertrag erhalten, etwa ein Prozent der Bausumme für Kunst und Bau aufzuwenden. So sind in über 100 Jahren auf Stadtgebiet rund 900 Kunst-und-Bau-Werke entstanden. Und noch immer geht es unter anderem darum, den Bewohnerinnen und Bewohnern quasi vor der eigenen Haustür eine inspirierende Kunsterfahrung zu ermöglichen.

Quellen und weiterführende Literatur:
Die Sehnsucht nach Harmonie.
Capol, Jan. Chronos, 2000.
Kunst und Bau in der ABZ: eine Tradition seit über 100 Jahren. ABZ, 2021.
Wikipedia, www.lebe-farbe.de