Wenn sich der Kreis des Lebens schliesst

«Eine wichtige Stütze»

Die Sterbebegleiterin Susanne Stahl verbringt Nächte damit, für Menschen am Lebensende und ihre Angehörigen da zu sein. Der Tod gehört für sie zum Leben.

Text: Esther Banz | Foto: Vera Markus | Dezember 2022

Es ist das volle Leben, das einen in Susanne Stahls Wohnzimmer in Hinwil (ZH) erwartet: Spielsachen, Kinderbücher, Fotografien mit lachenden Menschen, Zimmerpflanzen, helles Tageslicht – und eine in schnellem Tempo sprechende, wache Protagonistin. Im Eingangsbereich des Hauses fällt ein Treppenlift auf. Jacken sind über seinen Sessel gelegt, man sieht, dass er schon länger nicht mehr benutzt wurde. Wobei das so nicht ganz stimmt: Stahl hütet regelmässig ihre Enkel, wie sie erzählt, und der Treppenlift ihres verstorbenen Mannes tuckert dann schon mal hoch und wieder runter.
Dreizehn Jahre sind seit dem Tod von Susanne Stahls Mann Walter vergangen. Eine schwere Autoimmunerkrankung hatte ihn über die Jahre immer mehr in seinem Körper eingeschlossen. Seine Frau begleitete ihn in den Tod. Es war nicht ihr erster schmerz­vol­ler Verlust – den hatte Stahl bereits als 22-Jährige erlebt, als sie ihr zweites Kind tot zur Welt brachte. Diese einschneidenden Ereignisse prägten sie tief: «Hinter meiner Arbeit mit Sterbenden verbirgt sich eine riesige Geschichte.»

Eigene Erfahrungen
Stahl ist Sterbebegleiterin. Vermittelt wird sie von der «Vereinigung Begleitung Schwerkranker» im Zürcher Oberland, deren Präsidentin sie mittlerweile ist. Mit der ehrenamtlich tätigen Organisation kam sie wegen ihres Mannes in Kontakt: Freiwillige des Vereins besuchten ihn an einzelnen Vormittagen, spielten mit ihm oder gingen spazieren, so dass Stahl ein paar Stunden Auszeit hatte. Sie erlebte selbst, wie wertvoll das ist: «Man ermöglicht den Angehörigen, dass sie mal Ruhe haben, sich erholen können. Wir schenken ihnen freie Stunden.» Dankbarkeit ist mit ein Grund für das freiwillige Engagement der Pensionärin, die nach der familienbedingten beruflichen ­Auszeit zwei Altersheime geleitet hatte.
Die Menschen, die Stahl begleitet, leben mehrheitlich zuhause. Sie sieht Angehörige, die über ihre Kräfte hinaus gefordert sind. «Wir können als Begleitpersonen nur einen kleinen Teil abnehmen. Zuerst besuchen wir Betroffene vierzehntäglich, dann wöchentlich, und wenn sie im Sterben liegen noch häufiger.» Sie leiste am liebsten Nachtwachen, die meist von 22 bis 7 Uhr dauern, sagt Stahl. Damit ermöglicht sie Angehörigen, wieder einmal richtig zu schlafen, ganz ohne schlechtes Gewissen. Das sei eine wichtige emotionale Stütze. «Ich bestärke die Angehörigen darin, dass es völlig okay ist, Unterstützung in Anspruch zu nehmen.» Bevor sie eine Nachtwache antritt, ruft sie frühzeitig an und schaut am Tag des Einsatzes schon mal vorbei. Wann jemand stirbt, wisse man im Vo­raus nie. «Aber meistens wollen die Angehörigen dabei sein, helfen. Das kläre ich alles im Vorfeld ab.»

Angst vor dem Leiden
Heutzutage müsse niemand Schmerzen erleiden, Ziel sei, dass jede und jeder in Ruhe und angstfrei sterben könne. Dabei helfen Me­dikamente und Beruhigungsmittel wie Morphium. «Die meisten Leute haben keine Angst vor dem Tod, aber vor Schmerzen, ­einer Leidensphase», sagt Stahl. Der eigentliche Tod hingegen könne dann auch eine Erlösung sein. «So habe ich das mit meinem Mann erlebt.»
Wenn Stahl bei einem sterbenden Menschen die Nacht verbringt, legt sie Wert auf einen bequemen Stuhl. Und wenn möglich eine Liege. «Mit einem Ohr höre ich stets mit, auch wenn ich döse. Das ist wie bei den eigenen Kindern, man hört jedes Geräusch, schläft nie richtig.» Manche Menschen wollen trotz ihrer Schwäche aufstehen oder haben Momente der Aggression. «Es ist schwierig, die Selbständigkeit zu verlieren», sagt die Sterbebegleiterin. In solchen Momenten helfen oft Tropfen. Berührungen hingegen haben nicht alle gerne. Stahl hat ein feines Gespür dafür entwickelt, wann diese erwünscht sind. «Manchmal nehme ich eine Hand und lege sie in meine. Damit mein Gegenüber spürt, dass jemand da ist. Frauen haben es oft gerne, wenn man sie streichelt – bei Männern bin ich vorsichtiger. Manchmal summe ich einfach, ganz sanft. Oder spreche ein wenig.»
Stahl weiss: «Jeder Mensch stirbt auf seine Art und Weise.» Gut tue meist eine ruhige Stimmung. «Und wenn die Nächsten Danke sagen für das Schöne, das man zusammen erlebt hat. Oder von gemeinsamen Erlebnissen und ihren Erinnerungen erzählen. Was die sterbende Person noch aufnimmt, weiss man halt oft nicht.»

Loslassen können
Nicht immer trifft Stahl ein Umfeld an, das sie der Situation angemessen und dem Sterbenden gegenüber als würdevoll empfindet. Einmal, bei einer jüngeren Person, schauten Freunde Kriegsfilme am Sterbebett, mit ohrenbetäubender Lautstärke. Es war ihr nicht klar, warum überhaupt um Sterbebegleitung gebeten worden war.
Wenn ein Mensch gestorben ist, muss sich auch die Sterbebegleiterin von ihm lösen – und von den Angehörigen. Das sei nicht immer einfach, vor allem bei Hinterbliebenen, die es schwierig haben. «Das musste ich lernen, sonst würden mich zu viele Schicksale weiter begleiten.» Stahl besucht diese Menschen teilweise auch nach dem Tod noch. Das Erzählen und der Austausch helfe ihnen. Für sich selbst schöpft sie auf Spaziergängen, beim Turnen und in Beziehung mit ihrer Familie und anderen Erwachsenen Kraft.

Im Hier und Jetzt
Ihr selbst schärfte die Arbeit mit Sterbenden und Angehörigen das Bewusstsein fürs Leben, das so schnell zuende sein kann. Stahl bedauert, dass der Tod in unserer Gesellschaft so wenig präsent ist. «Er ist Teil des Lebens, auch meines eigenen. Genauso wie Krank­heiten, die einen jederzeit treffen können.»
Während des Gesprächs hat das Telefon mehrmals geklingelt, auch an der Tür hat es geklopft. Die 72-Jährige liess sich davon nicht ablenken. Sie ist es gewohnt, ganz im Hier und Jetzt zu sein. Und, sagt sie: «Mein Mann hat mir in seinen letzten Jahren gezeigt, was wirklich wichtig ist, was Leben heisst: nicht Geld und Job, sondern mit wenig glücklich zu sein.»

Vereinigung Begleitung Schwerkranker:
www.vbszo.ch