Schweizerin gründet Frauenhilfsprojekt «SAO» in Griechenland

Ein sicherer Ort

Weltweit befinden sich über 70 Millionen Menschen auf der Flucht. Rund die Hälfte von ihnen sind Frauen – bedroht von Gewalt, Ausbeutung und sexueller Belästigung. Das gilt auch im berüchtigten Lager Moria auf ­Lesbos. Die Zürcherin Raquel Herzog bietet geflüchteten Frauen dort vorübergehend einen geschützten Ort.

Text: Helen Weiss | Fotos: zVg | August 2019

Was würden Sie mitnehmen, wenn Sie plötzlich aus der Schweiz flüchten müssten? Ist das Smartphone Luxus oder hilfreiche Verbindung in die Heimat? Kann der Hund mit? Ist das Diplom wichtiger als das Fotoalbum? Und nützt eine Wolldecke mehr als der Laptop? Oftmals gilt es, innert weniger Stunden zu entscheiden, was einzupacken ist. Und es heisst, sich von jenen Dingen zu verabschieden, die für ein ganzes Leben stehen – die eigene Wohnung, Land, Besitz und die Heimat. Es wird anderen in die Hände fallen. «Menschen auf der Flucht erleben diese schmerzhafte Situation nicht nur einmal, sondern drei- oder viermal», weiss Raquel Herzog. Die Zürcherin ist eine von tausenden Freiwilligen aus aller Welt, die vom Flüchtlingsdrama in einer Form berührt war, dass sie 2015 spontan nach Griechenland reiste, um aktiv zu helfen. Heute leitet sie das operative Geschäft der von ihr 2016 ­gegründeten Non-Profit-Organisation «SAO Association, Frauen für Frauen auf der Flucht» in Griechenland.
Was es bedeutet, alles zu verlieren – sowohl materiellen Besitz als auch Dinge von emotionalem Wert –, ist kaum vorstellbar. Flüchtende müssen bei jeder Station auf der oft jahrelangen Flucht immer wieder von Neuem beginnen. Von diesen Flüchtlingsdramen hatte Raquel Herzog vor knapp vier Jahren ebenso wenig mitbekommen wie wohl die meisten Schweizerinnen und Schweizer. Wie viele andere auch sah sie dann das Bild von Alan Kurdi, dem kleinen Jungen, der tot am Strand liegt, angespült vom Meer. «Ich war wie gelähmt und wusste, dass ich nicht einfach zur Tagesordnung übergehen konnte», so Raquel Herzog. Sie buchte noch am selben Abend ein Flugticket nach Griechenland, und am Strand von Lesbos half die ehemalige Künstlervermittlerin aus Würenlos (AG) zwei Monate später den ersten Kindern aus einem Flüchtlingsboot.

Völlig überfülltes Lager
Ein erster Besuch des Flüchtlingslagers auf der griechischen Insel führte ihr eine unerträgliche Situation vor Augen. «Ort der Schande» nennen Medien das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Verzweifelte Menschen leben dort in Containerwohnungen, aber auch in provisorischen Zelten und unter Plastikplanen. «In der Sektion für allein­flüchtende Frauen sind derzeit 22 Frauen pro Container untergebracht. Diese sind 2,5 Meter breit und 6 Meter lang.» 80 Menschen müssen sich eine Toilette teilen, und dreimal täglich muss man drei Stunden für schlechtes Essen anstehen. Das Lager ist in unterschiedliche Sektionen aufgeteilt, was einen gewissen Schutz gewährleisten soll. «Die sanitären Anlagen sind jedoch nicht ­getrennt, weshalb es oft zu sexuellen Übergriffen kommt», erzählt Raquel Herzog. ­Viele Frauen getrauten sich deshalb zum Beispiel in der Nacht nicht mehr auf die Toilette.
Im berüchtigten Flüchtlingscamp leben derzeit rund 5000 Menschen, obwohl es nur für 1800 gebaut wurde. Die Stimmung im völlig überfüllten Lager ist aggressiv. Sexuelle Übergriffe sind an der Tagesordnung, werden aus Angst aber kaum angezeigt. Denn nicht selten sind es die eigenen Ehemänner, die ­den Frauen Gewalt antun. Die Flucht hat die ­Menschen traumatisiert, sagt Raquel Herzog. «Bei vielen Männern äussern sich Frustration und Stress in Form sexueller
Gewalt.» Auch gegenüber ihren eigenen Frauen. Raquel Herzog nennt die Fakten. Und weiss, warum die Frauen ihre Ehemänner bei der griechischen Polizei nicht anzeigen. «Sie sind von ihnen abhängig.» Viel wichtiger ist für sie, den Frauen jene Hilfe anzubieten, die sie in dieser Situation brauchen. Das sind eine ärztliche Untersuchung, psychologische ­Unterstützung und die Pille danach.

Im Bashira Centre finden geflüchtete Frauen für ein paar Stunden einen geschützten Ort, wo sie zum Beispiel ungefährdet duschen, sich austauschen, beraten lassen und entspannen können.

Ein sicherer Ort
Doch die Frauen bräuchten auch einen Wohlfühlort, ein «home away from home», eine Schutzzone, wo sie sich vom Lagerstress erholen können. Ein Art Daheim eben, auch wenn es das eigene Daheim nicht ersetzen kann. «Als ich die schrecklichen Zustände in Moria sah, war mir klar, dass ich handeln musste», sagt die 57-Jährige. Ihr Verein mietete deshalb 2017 ein Haus in Mitilini und gründete das Bashira Centre, acht Kilometer von Moria entfernt. «Dort schufen wir eine Art Innenhof, ähnlich wie bei den ­Nomaden, die ihre Zelte im Kreis aufstellen, um einen temporären Schutz- und Begegnungsraum zu formen.» Die Frauen nutzen die heimelig gestalteten Wohnzimmer oder den bunten Garten, trinken Tee, häkeln, ­reden miteinander oder machen Spiele. «In den Containern im Lager kann man sich ja nur aufs Bett ­legen, so eng ist es dort.»
Unterstützung wird zuerst dort geboten, wo es dringend ist und es um Schutz und ­Sicherheit geht. «Im Bashira Centre kümmern wir uns um die höchst verletzlichen Frauen. Jene, die an den Traumata der Flucht zu zerbrechen drohen, haben immer Vorrang.» Mit einem Bus kommen sie morgens sicher nach Mitilini, abends müssen sie wieder zurück ins Lager. Im Bashira Centre finden die Frauen nicht nur einen sicheren Ort vor, sondern erhalten auch gesundheit­liche Unterstützung. «Wir begleiten sie zum Arzt und bezahlen die notwendigen Medikamente», erzählt Raquel Herzog. Daneben werden sie psychologisch unterstützt, über Frauenrechte und Verhütung aufgeklärt, sie können Sprachen lernen oder Sport treiben.

Längerfristige Unterstützung
Dass sich die SAO Association ganz dem Motto «Frauen für Frauen» verschrieben hat, gründet in einer speziellen Begegnung: Während eines frühen Einsatzes lernte ­Raquel Herzog die 23-jährige Syrerin Ruha kennen. «Sie kam aus der Türkei mit ihren zwei jüngeren Schwestern, ihrer Cousine sowie ihrer 93-jährigen Grossmutter Amina.» Die Überlebenschancen für Amina standen im Flüchtlingslager schlecht. ­Raquel Herzogs Entschluss war schnell ­gefasst: ­«Ich mietete für die Familie eine Wohnung.» Fünf Monate hausten die Frauen ­gemeinsam ­zusammen – heute leben Ruha, ­ihre Schwestern und ihre Grossmutter wieder vereint mit dem Rest der Familie sicher in Schweden.
«Die Begegnung mit Ruha gab den Ausschlag, die Organisation ganz auf Frauen auszurichten», erinnert sich die Initiantin. Die SAO Association – benannt nach der Schutzherrin der sicheren Überfahrt und der Seerettung in der griechischen Mythologie – möchte den Frauen aber nicht nur kurzfristige Hilfe anbieten. «Wir wollen sie auch längerfristig begleiten», sagt Raquel Herzog. 2018 eröffnete die SAO Association deshalb in Athen das Amina Centre – benannt nach Ruhas Grossmutter –, um Frauen, die für längere Zeit oder dauerhaft in Griechenland bleiben, aktiv bei der Integration zu unterstützen. Mit dem neusten Programm «Back on Track» erhalten schliesslich jene Frauen Hilfe, die ihre Hochschulausbildung abschliessen möchten.
Was als spontaner Hilfseinsatz am Strand von Lesbos begann, ist zu einer Organisation mit 40 freiwilligen Helferinnen und 12 Mitarbeiterinnen angewachsen, die heute unter anderem auch von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA des Bundes finanziell unterstützt wird. Raquel Herzog bereut ihre spontane Entscheidung, vor vier Jahren als freiwillige Helferin nach Lesbos zu reisen, nicht: «Die gelebte Solidarität unter den Frauen ist unglaublich und beeindruckt mich immer wieder aufs Neue.»

www.sao.ngo