Leben in einer Frauengenossenschaft

«Wow, das möchte ich auch!»

Claudia Waldvogel lebt seit sieben Jahren in der Wohngenossenschaft berufstätiger Frauen Bern. Die 37-jährige ETH-Architektin macht zurzeit eine Lehre zur Maurerin und engagiert sich im Vorstand ihrer Genossenschaft.

Text: Paula Lanfranconi | Fotos: Renate Wernli | August 2019

Brückenstrasse 59, Marziliquartier. Von oben schaut majestätisch die Kuppel des Bundeshauses auf das langgezogene pfirsichfarbene Genossenschaftshaus hinunter. Es ist ruhig und grün hier, Vögel zwitschern. Im Garten blühen Iris und Pfingstrosen, eine Bewohnerin jätet den Kiesweg. Claudia Waldvogel, hochgewachsen, ein Lächeln im Gesicht, kommt gerade von der Baustelle. Wären da nicht ihre grossen Hände, niemand verfiele auf die Idee, die grazile 37-Jährige habe den ganzen Tag Kalksandsteine für die Fassade eines Schulhauses vermauert, jeder Stein sieben Kilo schwer.

Ungewöhnliche Laufbahn
Wir gehen ins Haus. In der modernen Küche dreht sich das Gespräch zuerst um Claudia Waldvogels ungewöhnliche Laufbahn. Begonnen hat sie mit einem Architekturstudium an der ETH Zürich. Nach dem Master will die frischgebackene Architektin weg, hinaus in die Welt. Sie macht ein Praktikum in den Niederlanden und arbeitet an einer finnischen Universität. Dann sieht sie im ­Internet eine Stelle als Architektin in New York – und bekommt sie. 2008, im Zuge der Finanzkrise, wird sie entlassen. Sinnfragen stellen sich ihr. Sie meldet sich als Freiwillige für ein US-Wiederaufbauprojekt nach Naturkatastrophen. «Der Teamgeist und die konstruktive Arbeit mit den Händen gefielen mir extrem», erzählt sie nun an ihrem Küchentisch. Aus der ursprünglichen Einsatzwoche wurden fast fünf Jahre USA.
In dieser Zeit besuchte Claudia Wald­vogel in Bern eine Freundin. Sie lebte in der Wohngenossenschaft berufstätiger Frauen. «Wow, so eine coole Wohnung möchte ich auch», dachte die Architektin, die bisher in WGs und Provisorien lebte. Und sie hatte Glück: Als sie 2012 in die Schweiz zurückkehrte, war eine Einzimmerwohnung in der Frauenwohngenossenschaft mit insgesamt drei Dutzend Wohnungen frei.
Claudia Waldvogels Wohnung misst ­35 Quadratmeter, plus Balkon, Estrich und Keller, alles für 700 Franken im Monat. Die Räume aus den 1920er-Jahren sind hoch und hell. Es gibt viele liebevolle handwerkliche Details, nichts ist normiert. Im geräumigen Wohnzimmer stehen nur das Bett und ein Sofa, ihr Büchergestell hat die Architektin in den Keller gezügelt. «Räume müssen wirken können», sagt sie.

Mitgestalten
Am Anfang sei der genossenschaftliche Aspekt für sie eher nebensächlich gewesen. Inzwischen findet sie diese Wohnform ideal: «Ich kenne meine 33 Mitbewohnerinnen. Man ist da, wenn jemand etwas braucht.» Und man könne sich einbringen und mitgestalten. Wer mag, macht beim gemeinsamen Jäten mit, es gibt einen Weihnachtsapero, einen Racletteabend, ein Sommerfest, die Generalversammlung und spontane Anlässe. Baufachfrau Claudia Waldvogel engagiert sich im fünfköpfigen Vorstand, der sich alle sechs Wochen im ehemaligen Bügelzimmer trifft. Es geht um Administratives oder Bauliches, etwa Fernwärme, Fenster- oder Fassadensanierungen.
Das Besondere an dieser Frauengenossenschaft sei wohl, dass viele Bewohnerinnen schon sehr lange hier lebten. Der Name der Genossenschaft entspricht denn auch nicht mehr der Realität, denn fast zwei Drittel der Frauen sind inzwischen im Pensionsalter. «Eine altersmässige Durchmischung würde wohl etwas Auflockerung bringen», stellt Claudia Waldvogel fest.

35 Quadratmeter mit viel Charme und guter Raumwirkung: die Einzimmer­wohnung von Claudia Waldvogel.

Weiterentwickeln, aber wie?
Sie selber ist nur wenig zuhause. Vor zwei Jahren hat die Architektin und Bauleiterin noch eine zweijährige Zusatzlehre zur Maurerin begonnen. Warum tut sie sich diesen Knochenjob an? Weil sie gerne draussen sei und etwas Konstruktives mit den Händen tue, statt am Computer zu vereinsamen, antwortet sie. Am Wochenende sei sie allerdings ziemlich geschafft und habe nicht mehr die Energie, zwei Tage nacheinander zu wandern. «Dem traure ich ein wenig nach.»
Hat die Frauengenossenschaft Zukunft? Es komme darauf an, was man wolle, sagt Claudia Waldvogel. Aufgrund des aktuellen Bewohnerinnenmixes sei einmal die Rede von Alterswohnungen mit Haushalthilfe gewesen, doch das entspreche nicht dem Zweck der Genossenschaft. Zudem eignen sich die drei Gebäude kaum für den Einbau von Liften. Im Zeitalter des verdichteten Bauens sei es auch nicht mehr stimmig, dass die Dreizimmerwohnungen bloss von einer Person bewohnt würden, mit Ausnahme von zwei Alleinerziehenden. Um zukunftsfähig zu bleiben, müsste die Genossenschaft wohl in einigen Aspekten über die Bücher. «Es kann ja nicht sein, dass die jungen Frauen gehen müssen, wenn sie mit jemandem zusammenleben wollen», stellt Vorstandsfrau Claudia Waldvogel fest.

Wieder unterwegs
Vor genau dieser Situation steht sie nun ­selber. Schon bald wird sie mit ihrem Freund zusammenziehen. Leider nicht in eine Genossenschaft, davon gebe es in Bern zu wenige, bedauert sie. Der baldige Abschied von ihrer jetzigen Wohnidylle fällt ihr schwer. ­Einen Fuss wird sie aber in der Türe behalten: Sie bleibt im Genossenschaftsvorstand.
Als Nächstes steht jetzt die Lehrabschlussprüfung an. Sie findet just am Frauenstreiktag statt. Nein, streiken werde sie nicht, sagt die angehende Maurerin lachend. «Das würde auch gar nicht auffallen, wir sind viel zu wenige Frauen in diesem Metier.» Sie werde aber ein violettes T-Shirt anziehen und am Nachmittag an der grossen Demo auf dem Bundesplatz teilnehmen.
Einmal mehr wird sich also Claudia Waldvogels Leben verändern. Sie überlegt sich, nach der Lehre noch einen Sommer lang auf dem Bau zu arbeiten. Danach möchte sie wieder eine Tätigkeit, die den Geist stärker stimuliere, zum Beispiel Bauleiterin oder ­Architektin. Für eine Genossenschaft, nicht für einen Finanzinvestor. «Ich bin immer auch auf der Suche nach Sinn», stellt die Frau mit der eigenwilligen Karriere klar.