Genossenschaftsporträt 2: 100 Jahre SCHG in Genf

«Wir bleiben in Bewegung!»

Die Société Coopérative d’Habitation Genève (SCHG) wurde 1919 zu einer Zeit grösster Wohnungsnot gegründet. Die zweitgrösste Baugenossenschaft der Westschweiz blickt auf eine bewegte Geschichte zurück – und will auch weiterhin in Bewegung bleiben.

Von Vincent Borcard | Bilder: SCHG | April 2019

«Die SCHG bleibt in Bewegung. Sie wurde schon immer vom Wunsch angetrieben, zu bauen», sagt Präsident Jean-Marc Siegrist. «Unsere Botschaft zum 100. Jahrestag: Wir arbeiten daran, dass unsere Nachfahren auch noch den 200. Geburtstag der Genossenschaft feiern können!»
Heute verfügt die grösste Genfer Genossenschaft über fast 2000 Wohnungen in mehr als 80 Gebäuden. Ihr aktuelles Bauprojekt Papillon symbolisiert gut den Übergang vom ersten ins zweite Jahrhundert ihres Bestehens: Mitten in der Stadt im Geviert Vieus­­seux-Villars-Franchises gestaltet die SCHG mit ihren Siedlungen gerade ein ganzes Quartier um. 260 Wohneinheiten, die
ab den 1930er-Jahren erstellt wurden, werden innert 15 Jahren etappenweise durch 550 hoch­wertige Wohnungen ersetzt und mit städtischen Einrichtungen wie Krippe, Sporthalle und Bibliothek ergänzt. Das neue Quartier soll eine breit durchmischte Bewoh­nerschaft aufnehmen, unter anderem entstehen 60 Wohnungen für ältere Menschen. Die von Maurice Braillard entworfene ursprüngliche Cité Vieusseux, die erste Westschweizer Siedlung des «minimalen Wohnens», wird dabei einer luftigeren Anlage weichen.
Autos und Parkplätze werden gänz­lich in den Untergrund verbannt, was die Schaffung hochwertiger Aussenräume mit Grünzonen und öffentlichen Plätzen erlaubt.

Kind der Krise
Bereits in den 1960er-Jahren erlebte das Quartier eine erste Phase der Umgestaltung, die ebenfalls geprägt wurde von Schwergewichten unter den Genfer Architekten: den Brüdern Jean-Jacques, Pierre und Robert Honegger. Das Ziel war bei jedem Eingriff das gleiche: guten Wohnraum für die Arbeiterklasse und den Mittelstand zu schaffen.
In den Siedlungen habe sich von Anfang an eine «SCHG-Kultur» etabliert, wo jeder jeden kennt, sagt Jean-Marc Siegrist: «Diese Kultur hat sich auch bei langjährigen Genossenschaftern erhalten, insbesondere in Vieus­seux. Einen interessanten Aufschwung haben wir zudem bei unserer letzten Generalversammlung beobachtet. 470 Leute haben teilgenommen, zwanzig Prozent mehr als sonst.» Dieses Zugehörigkeitsgefühl wird nicht zuletzt durch den privilegierten Zugang zu Wohnungen für die Kinder der Mitglieder gefördert. In Genf ist man von Generation zu Generation Teil der SCHG.

Schwieriger finanzieller Start
Die Wohnsituation in Genf ist im Jahr 2019 von einem eklatanten Mangel an bezahlbaren Wohnungen geprägt. So scheint es kaum vorstellbar, dass die Situation 1919 noch viel schlimmer war. Am Ende des Ersten Weltkriegs galoppierte die Inflation, es herrschte eine hohe Arbeitslosigkeit und die Löhne stagnierten. In der Romandie forderten daher die Linke, aber auch christliche Parteien staatliche Interventionen. Dies auch vor dem Hintergrund, dass in die alten Quartiere im Zentrum Genfs, die einst dem Wohnen gewidmet waren, nun immer mehr Geschäfte und Luxusappartements kamen.
In diesem Umfeld wurde die SCHG am 27. Juni 1919 gegründet. 614 Mitglieder zeichneten mehr als 800 Anteilscheine. Inspiriert wurden die Initianten vom Modell der Gartenstadt, auf dem auch die ersten umgesetzten Projekte beruhten. Es sollte Arbeitern und Angestellten die «Würde einer zwar bescheidenen, aber unabhängigen Wohnung» bieten. Die meisten Mitgründer standen Ideen im Umfeld von Philanthropie und Sozialismus nahe. So geht die SCHG auf einen Vorstoss des Gewerkschafters und späteren SP-Gemeinde- und Kantonsrats Charles Burklin an den Genfer Stadtplaner Camille Martin zurück; dieser wurde erster Präsident der SCHG. Eine wichtige Rolle spielte zudem ein Schuhmacher, der den Austausch zwischen einem Immobilienmakler und einer Gruppe von Arbeitern sowie Kleingewerblern und Handwerkern organisierte.

1921 baute die SCHG am Chemin des Sports ihre erste Gartenstadtsiedlung mit 52 Reihenhäuschen (rechts). Unten die Cité Villars in den 1930er-Jahren. Das Herzstück der SCHG, das Gebiet Cité Villars-Vieusseux-Franchises, wird derzeit vollständig umgestaltet.

Im Zentrum verankert
Im Jahr 1921 erstellte die SCHG am Chemin des Sports ihre erste Gartenstadtsiedlung mit 52 Reihenhäuschen. Trotz Bundeshilfe war die Finanzierung schwierig. Die Zahl derjenigen, die Anteilscheine zeichneten, war geringer als erwartet. Mit politischer Unterstützung gelang es der jungen Genossenschaft schliesslich, sich von gewissen Steuern zu befreien und bei Anschlussarbeiten für Wasser, Gas, Strom und Kanalisation von kommunalen Dienstleistungen zu profitieren. Gleichzeitig wurden auch die nicht rückzahlungspflichtigen Subventionen von Kanton und Bund von 25 auf 30 Prozent der Baukosten erhöht.
Nach dem eher harzigen Start verlangte die Bautätigkeit der SCHG auch später immer wieder viel Kampfgeist, Durchhaltewillen und Cleverness ab. Zahlreich waren die Frustrationen, Schwierigkeiten und Krisen, die die SCHG in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens zu meistern hatte*. Und doch hat sie, abgesehen von einer Verschnaufpause in den 1950er-Jahren, nie aufgehört, in der Stadt Genf zu bauen und umzubauen. Lange Zeit lag der Schwerpunkt ihres Wirkens in zentralen Stadtteilen in der Nähe der Route d’Aïre oder der Route de Meyrin. Erst Mitte der 2000er-Jahre realisierte die Genossenschaft ihr erstes Projekt am linken Ufer der Rhone, in Carouge.

Mit Innovationsgeist in die Zukunft
In jüngerer Zeit hat die SCHG verschiedene Gebäude mit hoher Energieeffizienz erstellt. Während am Grand Saconnex zweigeschossige Duplexwohnungen angeboten werden, wartet die Siedlung Le Mervelet mit spektakulären Fassaden auf. Der Grossbau mit rund 100 Wohnungen am Chemin des Sports 74-80 erlaubt dank unabhängigen Zimmern, die zum Beispiel für Familienmitglieder oder zum Arbeiten zugemietet werden können, flexibles Wohnen. Letztes Jahr konnte die SCHG zudem eine erste Serie von Studentenwohnanlagen einweihen. Durch die laufenden Projekte sollen in den nächsten Jahren rund 500 neue Wohnungen entstehen. Das ambitionierteste Vorhaben der SCHG neben Papillon ist die Teilnahme am Projekt Quai des Vernets, wo verschiedene Bauträger gemeinsam ein neues Quartier entwickeln, das den hohen energetischen Anforderungen der 2000-Watt-Gesellschaft genügen und insgesamt 1600 Wohnungen anbieten will.
Nun, wo die Genossenschaft in ihr zweites Jahrhundert aufbricht, versagt sie sich nichts. Das heisst: fast nichts. Präsident Jean-Marc Siegrist: «Es werden regelmässig gemischte Projekte an uns herangetragen, die auch Stockwerkeigentum vorsehen. Wir haben im Vorstand die Möglichkeit diskutiert, selber Eigentumswohnungen zum Selbst­kostenpreis zu bauen. Die Diskussion war sehr kurz: Das ist nicht unsere Aufgabe! Wir wollen weiterhin Wohnraum anbieten, der langfristig der Spekulation entzogen ist.»

*Bernard Lescaze, David Hiller, Anita Frei: «La Société Coopérative d’Habitation Genève & l’Histoire du logement social à Genève (XIXe et XXe siècle)». Publikation von 1994 zum 75-Jahre-Jubiläum.