Neunzig Jahre im gleichen Haus

«Hier bin ich daheim!»

Vor neunzig Jahren zog Bruno Kohler in das damals neu gebaute Haus der Genossenschaft Schweighof in Zürich ein, wo er bis heute wohnt. Daran soll sich so bald auch nichts ändern: Der bald 100-Jährige möchte noch möglichst lange hier bleiben.

Von Helen Weiss | Bilder: Ursula Markus, zVg | April 2019

Bruno Kohler stützt sich in seinem Garten auf den Gehstock und hebt den Kopf. «Stehe ich unter der Palme und schaue in den Himmel, fühle ich mich immer wie in den Ferien», meint er schmunzelnd. Die drei Meter hohe Hanfpalme hat er vor Jahren gekauft. Heute markiert das exotische Gewächs die oberste Ebene des Gartens. «Hier hinter den Genossenschaftshäusern gab es 1930 noch eine riesige Wiese mit Bauernhof. Die Stras­se vor dem Haus war nicht geteert, sondern ein Naturweg. Und auf der Wiese unter dem Üetliberg wuchsen Kirschbäume. Das sah toll aus, damals.» Bruno Kohler erzählt sehr bildlich, beschwört die Vergangenheit mit seinen Worten wieder herauf. Etwa, wie er als Kind wegen der Lehmgruben immer mit schmutzigen Schuhen nach Hause kam. Oder über die Aussicht auf den Üetliberg, die er vom Haus aus genoss.
Heute ist die Schweighofstrasse geteert und ausgesprochen verkehrsreich. Der Ausblick ist durch Lärmschutzwände behindert, und die Kirschbäume sind längst Überbauungen gewichen. Nein, hier in der Heimgenossenschaft Schweighof in Zürich ist vieles nicht mehr so, wie es beim Bau 1929 war. Damals zog Bruno Kohler mit seinen Eltern und seiner Schwester als neunjähriger Bub hier ein. Und ist nicht mehr ausgezogen. «Ich sah nie einen Grund, sonst irgendwo zu wohnen», meint er und lächelt verschmitzt.

Nicht grösser, aber wohnlicher
Der bald 100-Jährige hat quasi sein ganzes Leben hier verbracht und wohnt noch heute selbständig – mit Spitex-Unterstützung – in seinem Vierzimmer-Reihenhaus. Seine Tochter Madeleine lädt ihn jeweils am Wochenende zum Essen ein, ihre jüngere Schwester Monika kocht ihm warme Mahlzeiten für alle anderen Tage vor. Bruno Kohler ist seit vier Jahren Witwer; das Alleinsein fällt ihm noch immer schwer. Umso mehr freut er sich über einen Plausch mit den Nachbarn. Zwar hat die erste Genos­sen­schaftsgenera­tion längst gewechselt, aber es sind neue Freundschaften entstanden. «Ich habe hier ganz liebe Nachbarn, die mich wunderbar betreuen.» Sie seien regelmässig zu Besuch. «Dann plaudern wir über Gott und die Welt.»
Nicht nur neue Nachbarn sind eingezogen, im Verlauf der letzten neunzig Jahre gab es auch einige bauliche Veränderungen. 1935 wurden die Vordächer über dem Eingang vollständig geschlossen und zu «Läubli» umfunktioniert. Doppelfenster ersetzten die Vorfenster. «Wir haben zudem später, als der Verkehr zunahm, schalldichte Fenster eingebaut.» Der Familienvater ersetzte auch die alte Holzheizung durch eine Zentralheizung, die er bis in die Winde hinaufzog. «Der Platz im Haus war beschränkt, meine Töchter mussten im Kajütenbett schlafen.» Er beschloss deshalb, den Dachstock auszubauen. «Durch all die Massnahmen wurde das Haus zwar nicht grösser, aber wohnlicher», meint er.

Anfang der 1930er-Jahre sah die Welt noch anders aus: Pflanzgarten statt Palme und blühende Obstwiesen statt Stras­senlärm. Bruno Kohler (rechts sitzend) mit Mutter und Schwester.

Folgenschwerer Schildkrötenverband
Ursprünglich hat das Ehepaar Kohler gemeinsam mit Bruno Kohlers Mutter im Haus an der Schweighofstrasse gewohnt und hier die beiden Töchter grossgezogen. «Als meine Frau Louise schwanger wurde, bat mich meine Mutter, im Haus bleiben zu dürfen», erinnert sich Bruno Kohler. Fortan hütete sie die Enkelinnen, so dass beide Eltern zur Arbeit gehen konnten. Jahre zuvor hegte der Zürcher den Plan, Innenarchitekt zu werden und nach einer Lehre als Möbelschreiner die Kunstgewerbeschule in Zürich zu besuchen.
«Aber alles kam anders. Ich wurde 1939 mobilisiert und musste in die Kaserne Aarau ein­rücken.» Als begabter Skifahrer und Skiinstrukteur verbrachte er seine aktive Dienstzeit in den Bergen. Was wiederum dazu führte, dass Bruno Kohler einen Samariterkurs besuchen musste, wo er seine zukünftige Frau Louise kennenlernte. Schwarze Haare, gerade Beine, elegant und schön war sie. «Ich machte ihr einen Schildkrötenverband und schaute ihr tief in die Augen», erzählt er. Louise konnte seinem Charme nicht widerstehen, und nach dem Krieg heirateten die beiden.

Filme mit Kurt Früh
Eine Familie gründen wollte Bruno Kohler eigentlich nicht: «Ich hatte Angst, dass ich die Kinder nicht anständig unterhalten könnte.» Denn die Zeiten waren schwierig: «Wir hatten zwar beide Arbeit, aber immer nur von Tag zu Tag.» In dieser Ungewissheit war es für ihn umso wichtiger, mit seinem Genossenschaftshaus einen sicheren Hafen zu haben. Bruno Kohler kam nach dem Krieg zum Schweizer Film und arbeitete sich als Assistent diverser Abteilungen langsam nach oben. «Das war eine wunderbare Zeit. Ich war für grosse Produktionen tätig, reiste nach Rom, Venedig und Graz und war manchmal zwei bis drei Monate unterwegs.» 1957, nach einem Hüftbruch, den er sich bei einem Skiunfall zuzog, wechselte er zum Schweizer Fernsehen. «Ich habe dort als Tonmeister alle Filme von Kurt Früh vertont.»
Die Hüfte brach er sich leider noch ein weiteres Mal, vor zehn Jahren: «Ich habe ­einen Tritt übersehen, als ich den Boden beim Eingang des Hauses wischte.» Die ­Hüfte war gleich sechsfach gebrochen, aber eine riskante Operation, zwanzig Zentimeter Stahl, sechzehn Schrauben und ein künstliches Hüftgelenk später, war Bruno Kohler wieder auf den Beinen. «Ich wollte unbedingt ­wieder laufen können», sagt er. Noch heute versucht er, seine Kondition zu verbessern, macht selbstständig viel Hausarbeit und ­arbeitet noch immer tüchtig im Garten. «Ich möchte noch so lange wie möglich hier wohnen bleiben», meint Bruno Kohler lächelnd. «Ich hatte ja schliesslich auch die letzten 90 Jahre keinen Grund zu zügeln.»