Im Tanz-Café blühen demente Menschen auf

«Es geht ums Hier und Jetzt»

Einmal im Monat treffen sich Demenzbetroffene, Angehörige und andere ältere Menschen zu Max Grütters Tanz-Café. Musik sei der Königsweg, um die Sinne anzusprechen, sagt Co-Gastgeberin und Musiktherapeutin Nicole Haas-Clerici.

Von Paula Lanfranconi | Bilder: Ursula Markus | April 2020

14.00 Uhr, Gaststube Haldenegg oberhalb des Zürcher Centrals. DJ Max Grütter alias Ruedi Haas macht gerade den Soundcheck. «Grüezi wohl Frau Stirnimaa» ertönt, die Begrüssungsmelodie. Seine Partnerin Nicole Haas-Clerici verteilt derweil Schoggiguetzli auf die Tische. Das sei wichtig: «Menschen mit Demenz lieben Süsses.» DJ Max bleibt gerade noch Zeit, um seine Dächlikappe aufzusetzen, da treffen bereits die ersten Gäste ein. Stammgast Lydia wiegt sich sofort im Takt zu «Frau Stirnimaa». Sie sei schon immer ein «Tanzfüdli» gewesen, sagt die vitale Achtzigjährige später. Heute hat sie ihre Nachbarin Eftimia mitgebracht – auch zur Sicherheit, weil sie nur noch wenig sieht. Eftimia weiss aber noch nicht, ob sie tanzen wird.
Auch Mira braucht Zeit, um anzukommen. Nicole Haas-Clerici setzt sich neben die betagte Dame, lächelt und legt behutsam eine Hand auf ihren Arm. Nun strahlt Mira. Sie ist verwitwet, wie viele hier, fühlt sich manchmal einsam. Tanzen könne sie nicht so gut, aber sie sei gerne mit Leuten, «lieben Leuten». Jetzt trifft auch Lydias Kollegin aus dem früheren Warenhaus Epa ein, s’Stiefeli. Sie trägt ein elegantes Top, ihr Haar ist hochgesteckt. Früher habe sie Karaoke gesungen und sei auch Sopranjodlerin in einem Trachtenchörli gewesen. «Als Norddeutsche», fügt sie schmunzelnd hinzu.
Es geht gegen halb drei. Die Gaststube Haldenegg, ein stilsicherer Mix aus tannengrünen Wänden und viel Holz, füllt sich. Grossformatige Schwarzweissfotos aus SAC-Hütten suggerieren alpine Gemütlichkeit, Schiefertafeln preisen Eiertätsch, Gummelistunggis und Bätziwasser an.

Tanzen oder einfach nur zuhören
14.30 Uhr. DJ Max begrüsst die Gäste, grossmehrheitlich Frauen, mit ein paar launigen Worten und schickt sie mit Harry Belafontes «Island in the Sun» und Adamos «Träne» auf musikalische Weltreise. Spätestens bei Rex Gildos «Fiesta Mexicana» ist die Tanzfläche voll. Lydia und s’Stiefeli tanzen routiniert, bei anderen Gästen ist es mehr ein sanftes Wiegen im Rhythmus der Musik. Die Stimmung ist fröhlich, fast ausgelassen. Nur eine einzelne Frau schaut mit traurigen Augen in die Ferne. Niemand versucht, sie aufs Parkett zu holen. Im Tanz-Café, erläutert Nicole Haas-Clerici, gehe es um die Bedürfnisse der Gäste: «Sie können auch einfach dasitzen. Es ist an mir, zu spüren, ob sie sich tatsächlich bewegen möchten.»
«Max Grütters Tanz-Café» gibt es seit Mai 2019. Ursprünglich ins Leben gerufen hatte den Tanzanlass für Demenzbetroffene die ehemalige Radiomoderatorin und «Musikmamsell» Verena Speck. Als sie altershalber aufhörte, habe sie ihn angefragt, ob er das Tanz-Café übernehmen wolle, erzählt Ruedi Haas. Der 66-Jährige war ursprünglich Schauspieler. Später arbeitete er viele Jahre in Stadtzürcher Alters- und Pflegezentren. Dort organisierte er soziokulturelle Veranstaltungen und traf so auf Verena Speck.

Ruedi Haas alias Max Grütter und seine Partnerin Nicole Haas-Clerici führen seit letztem Jahr das Tanz-Café in Zürich durch.

Mitten ins Herz
Ruedi Haas arbeitet nicht mehr mit Vinylplatten, wie weiland die Musikmamsell, sondern digital. Und natürlich brauchte sein Tanz-Café einen Namen. Doch warum just «Max Grütter»? In den Pflegezentren, erzählt er, habe man realisiert: Den Ruedi kann man auch als Regisseur und Schauspieler gebrauchen. Es entstanden dann Schulungsfilme, in denen Ruedi Haas die Figur Max Grütter verkörpert, einen alten Mann, der an Demenz erkrankt ist. So lag es nahe, das Tanz-Café nach ihm zu benennen. Finanziert wird der Anlass hauptsächlich von Demenz Zürich, einer der grössten Communitys von Betroffenen für Betroffene in der Schweiz.
Ganz wichtig ist Ruedi Haas die profes­sionelle Begleitung durch seine Lebenspartnerin Nicole Haas-Clerici. Kennen gelernt hat sich das Paar beim Theaterspielen. Heute begleitet die gerontologische Fachfrau und Musiktherapeutin im Pflegezentrum Ent­lisberg Menschen mit einer schweren Demenz. In dieser «Welt der kognitiven Schutzlosigkeit» gehe es nicht mehr ums Verbale, sondern darum, über die Herzensebene die Sinne zu stimulieren. «Wir versuchen, ihre aktuellen Bedürfnisse zu erraten, die Wechselhaftigkeit der geistigen und gefühlsmässigen Zustände zu erkennen und ihnen so ein möglichst leidensfreies Dasein zu ermöglichen. Es geht ums Hier und Jetzt.»

Es geht auch um Gemeinschaft
Musik, sagt Nicole Haas-Clerici, sei der Königsweg zu Menschen mit Demenz. Sie unterstütze den Zugang zu Gefühlen, fördere Kognition und Motorik. Mit Klängen könne man Demenzbetroffene abholen, während das Verbale, diese ständige Befragerei, sie überfordere. «Viele sprechen nicht mehr. Aber sie singen noch.» Es seien immer dieselben vertrauten Lieder. «Es Buurebüebli» zum Beispiel. Und wenn eine Frau mitten im Sommer Weihnachtslieder singe, nehme sie das auf dem Klavier auf und singe mit. «Es ist die Realität dieser Frau.»
Nicole Haas-Clericis Arbeit im Tanz-Café scheint unspektakulär, erfordert aber hohe Präsenz. Die 52-Jährige bewegt sich auffallend ruhig, ein Lächeln auf ihrem offenen Gesicht. Sie kommuniziert mehrheitlich nonverbal, schaut, was von den Gästen selber kommt. Und da kann es eben sein, dass jemand einfach nur dasitzen und dieses Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit geniessen möchte wie einen wärmenden Mantel. Und das nicht in einer heimähnlichen Atmosphäre, sondern hier, in der Gaststube Haldenegg, die vielleicht an früher erinnert.

Zwei Stunden glücklich sein
Fast ist der Nachmittag zu Ende. Da öffnet Lydia ihren dickbauchigen Rollkoffer und überreicht DJ Max kleine Geburtstagsgeschenke, begleitet von lustigen Sprüchen. Sie sei halt früher, verrät sie später, auf Märkte gefahren und habe Möbelpolitur unters Volk gebracht.
«Arrivederci Hans» ist verklungen, die Schoggiguetzli verspeist. DJ Max und Partnerin Nicole sind zufrieden. Über zwanzig Gäste sind gekommen, darunter etliche neue Gesichter. Und das Wichtigste: Max Grütters Tanz-Café hat wieder fast alle für zwei Stunden glücklich gemacht.

Zürich: Max Grütters Tanz-Café,
www.demenzzuerich.ch/tanzcafé
Diverse Orte: Josefinas Tanz-Café,
www.tanz-café.ch