Im Corona-Shutdown haben sich Genossenschaften Solidarisch gezeigt

Lichtblicke in Schattenzeiten

Wie haben Baugenossenschaften die Corona-Krise gemeistert? Wie sind Bewohnerinnen und Bewohner damit umgegangen? Eine Umfrage von Wohnenextra zeigt: Die Herausforderungen sind gross. Aber ebenso gross sind Solidarität und Hilfsbereitschaft – von ganz pragmatisch bis kreativ.

Von Liza Papazoglou | Bilder: Daniel Misteli, zVg | August 2020

Die Corona-Krise hat den Alltag der Menschen völlig auf den Kopf gestellt – auch bei den Baugenossenschaften. Mit dem Shutdown Mitte März mussten die Verantwortlichen praktisch von einem Tag auf den anderen Sicherheitsvorkehrungen für Mitarbeiter und Bewohnerinnen treffen und einen funktionierenden Betrieb vom Home-Office aus gewährleisten. Und sie sahen sich rasch mit vielen Fragen konfrontiert: Wie begegnet man Mietenden und Betrieben, die ­wegen der Pandemie in Finanzengpässe geraten? Braucht es Massnahmen, um ältere Bewohnerinnen oder Familien zu unterstützen? Was passiert mit Sanierungen und Planungsprozessen? Können Umzüge stattfinden? Wie lassen sich Generalversammlungen durchführen?
Die Wohnenextra-Redaktion wollte wissen, wie Genossenschaften mit den Corona-bedingten Herausforderungen umgehen. Sie hat deshalb im April, mitten im Lockdown, die Deutschschweizer Verbandsmitglieder angeschrieben. Die mehr als sechzig Antworten und weitere Gesprächen zeigen, was vor allem am Anfang besonders unter den Nägeln brannte, aber auch, welche Themen die gemeinnützigen Bauträger wohl noch für eine ganze Weile beschäftigen werden – schliesslich weiss niemand, wie es mit dem Coronavirus und seinen Auswirkungen auf die Gesellschaft weitergeht.

Eine regelrechte Solidaritätswelle
Vorweg so viel: Über alle Unterschiede zwischen den Genossenschaften hinweg ist eines durchs Band hinweg festzustellen – eine beispiellose Solidarität. Vorstände und Geschäftsführerinnen, Mieter und Siedlungsgruppen: Sie alle haben rasch, unkompliziert und oft kreativ auf die Krise reagiert und zahlreiche Angebote auf die Beine gestellt, um in der Zeit, da möglichst alle zuhause bleiben sollten, ihre Mitmenschen zu unterstützen und aufzumuntern. An erster Stelle stand dabei pragmatische Nachbarschaftshilfe. Sie entstand meist spontan und ganz selbstverständlich aus den Reihen der Bewohnerinnen und Bewohner. Nina Pfenninger, Vorstandsmitglied des Regionalver­­bands Zürich von Wohnbaugenossenschaften Schweiz, wundert dies nicht: «Genossenschaften sind ein guter Boden für Eigen­initiative und Engagement. Sie pflegen Werte wie Solidarität und Eigenverantwortung, und ihre Strukturen fördern es, dass Leute sich kennen und füreinander schauen.»
Das grosse freiwillige Engagement der Mitglieder hat auch die Verantwortlichen beeindruckt. Verena Immer von der Wohnbaugenossenschaft Stern in Thun etwa formuliert es so: «Die Solidarität untereinander ist für uns überwältigend. So kaufen Jüngere für unsere Senioren ein, treten regelmässig per Telefon mit ihnen in Kontakt, beschenken sie mit Selbstgebackenem, reinigen Treppenhäuser. Sie nehmen regen Anteil am Wohlergehen ihrer Nachbarinnen und Nach­barn. Das klappt vorzüglich!» Ähnliches berichten andere Genossenschaften. Innert kürzester Zeit hingen in vielen Hauseingängen Flyer mit Hilfsangeboten oder wurden Whatsapp-Hilfsgruppen gegründet. Neben den üblichen Unterstützungsleistungen im Alltag wie Einkaufen oder Gängen zur Post haben Bewohnende auch für andere gekocht, Hunde ausgeführt, Lebensmitteldepots und -lieferungen, Aufgabenhilfen oder Kinderhütedienste für Familien organisiert.
Die Hilfsbereitschaft war so gross, dass sich bisweilen mehr Helfer als Bedürftige meldeten. Das stellt etwa Judith Odermatt von der Gewoba Zug fest: «Die Organisation der Versorgung funktionierte extrem schnell. Die Leute können sich zum Teil kaum retten vor Angeboten.» Die positive Wirkung des Engagements betont die Präsidentin der Baugenossenschaft Reppisch aus Birmensdorf (ZH), deren Siedlung erst im letzten Jahr bezogen wurde. Sei es bisher schwierig gewesen, die Leute zusammenzubringen, habe die Krise dies geändert: «Inzwischen haben wir viel mehr Dialog untereinander. Wir rufen einander an, helfen beim Einrichten von Kommunikationsmöglichkeiten und tauschen uns darüber aus, wie es uns geht.»

Während des Shutdowns war die Hilfsbereitschaft unter Nachbarinnen und Nachbarn riesig. Genossenschaftsmitglieder haben aber auch mit kreativen Aktionen für gute Laune gesorgt, etwa mit einem Balkonwunschkonzert (ABL, Hauptbild), Corona-Tierli (Eigengrund), einer Regenbogen­aktion (EBG beider Basel) oder einer Schmetterlingswand (GBL).

Moralische Unterstützung
Vielen Menschen, die ihre Wohnung über Wochen kaum mehr verlassen haben, weil sie zur älteren oder besonders gefährdeten Bevölkerung zählen, hat die Isolation stark zugesetzt. Auch hier wurde während des Ausnahmezustands bei Genossenschaften Für­sorglichkeit grossgeschrieben: In manchen Siedlungen haben Bewohnende wöchentlich alle Seniorinnen und Senioren angerufen und mit ihnen geplaudert. In einigen Genossenschaften haben aber auch Mitarbeiterinnen, Geschäftsführer oder Vor­stands­mit­glieder regelmässig zum Telefon gegriffen, um sich persönlich nach dem Befinden aller älteren Mitglieder zu erkundigen. «Dabei haben sich auch Freundschaften entwickelt, und der Service wurde dankend und häufig genutzt», heisst es etwa bei der Zürcher Siedlungsgenossenschaft Sunnige Hof.
Besonders eindrücklich ist die lange Liste der Aktivitäten, mit denen in vielen Siedlungen der Shutdown-Blues bekämpft wurde – oft auf originelle und herzerwärmende Art. Für gute Laune gesorgt haben zum Beispiel Osterkörbe und Blumensträusse, Bastel- und Malaktionen, Gedichte und Zeichnungen in den Treppenhäusern, Geschenksäckli vom Hofladen – und natürlich alle möglichen Formen von Balkon- und Hofkonzerten, wo für- und miteinander gesungen, musiziert und getanzt wurde. Auch mit Bewegungsangeboten haben engagierte Genossenschafterinnen dafür gesorgt, dass die Zuhausebleibenden nicht vollends verrosten, vom Kinderyoga bei der ABZ über Qigong im Garten von Kraftwerk1 bis zum Bleib-fit-Turnprogramm für Seniorinnen der Thuner WBG Stern. Die aus Eigeninitiative entstandenen Angebote zeigen, wie viele Genossenschafter der Krise mit Fan­tasie und positiver Energie begegnet sind. Das hat die Menschen näher zusammenrücken lassen und das Gemeinschaftsgefühl gestärkt.

Geschenke mit Mehrwert
Mit grossem Engagement haben aber auch die Genossenschaftsverantwortlichen rasch und unbürokratisch dafür gesorgt, dass ihre Mitglieder möglichst gut durch den Shutdown gekommen sind. Neben kleinen Aufmerksamkeiten etwa in Form von Süssigkeiten oder Sträussen gab es auch handfeste Unterstützung. Mehrere kleine Genossenschaften im Raum Thun haben so allen Mitgliedern im April rund eine halbe Monatsmiete zurückbezahlt. Andere haben für sämtliche Bewohnenden Geschenke organisiert, mit denen sie gleichzeitig dem lokalen Gewerbe unter die Arme gegriffen haben – auch dies eine Form gelebter Solidarität. Bei der WBG Birsfelden zum Beispiel waren das Blumengestecke und Pizzagutscheine, die der Präsident teils persönlich mit dem Velo verteilt hat; bei der WBG Talgut aus Winterthur eine gut gefüllte «Winti-Chischte» mit regionalen Lebensmitteln.
Ganz unterschiedlich gestaltet hat sich der Umgang mit gemeinschaftlichen Räumen angesichts von Versammlungsverbot und Hygienemassnahmen. Mehrheitlich wur­den diese geschlossen; um Arbeitstätige und Familien zu entlasten, hat aber zum Beispiel die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich (ABZ) Gästeräume für Notfälle reserviert, die Thuner WBG Stern hat verwaiste Geschäftsstellenbüros für Home-Office und weitere Ge­nossenschaften haben Freizeiträume für Familien, als Schul- oder Bewegungszimmer zur Verfügung gestellt.

Langzeitwirkung noch offen
Inwiefern das grosse Engagement nach einigen Wochen Shutdown und einer allmählichen Entspannung der Lage nachhaltig wirkt, können auch Fachleute, die sich um das nachbarschaftliche Zusammenleben küm­mern, noch nicht abschätzen (siehe auch Beitrag in Wohnen 7-8/2020). Viele nachbarschaftliche Hilfsangebote dürften sich erübrigen, wenn alle sich wieder frei bewegen und für sich selbst schauen. Doch werden wohl die enger geknüpften Bindungen und neuen Netzwerke in vielen Fällen halten und es künftig erleichtern, auch andere Herausforderungen gemeinsam zu meistern. Erwartet wird zudem, dass die mit Online­kanälen gemachten ­Erfahrungen die Kommunikation und organisatorische Belange erleichtern und allenfalls helfen, künftig auch junge Mitglieder besser zu erreichen.
Allerdings hat sich auch gezeigt, dass mit fortschreitender Dauer des Ausnahmezustands die nachbarschaftlichen Spannungen zugenommen haben. Heidi Wicki von der Zürcher Bau- und Wohngenossenschaft Kraft­­werk1 etwa verweist auf eine deutliche Verschärfung von Kommentaren im Intranet und in Mails, in denen sich gereizte Bewohnende über die Nutzung von Gemeinschaftsräumen, spielende Kinder oder Unordnung in öffentlichen Bereichen beschweren. «Man merkt, dass die Krise bei vielen an der Substanz gezehrt hat und ihnen zuhause die Decke auf den Kopf gefallen ist», sagt sie. Ängste, eine grosse Verunsicherung, finanzielle Nöte oder auch persönliche Verluste setzen den Menschen zu. Das hat zu mehr Konfliktfällen geführt, die geschlichtet werden mussten. Sollte eine zweite Corona-Welle kommen und wieder strengere Einschränkungen verfügt werden, könnten sich solche Span­nungs­situationen deutlich häufen.

Ostergrüsse und -sträusse, Plakate, Konzerte, Briefe, Pflanzentausch, Lebensmittelpakete usw. – in der Krise haben sich viele um andere gekümmert. Mit der Zeit haben aber auch Konflikte zugenommen.

Flexibilität und Mehraufwände
Während viele Bewohnerinnen und Bewohner am Anfang der Krise vor allem damit beschäftigt waren, ihren eigenen Alltag mit Home-Office, Kinderbetreuung und der Neuorganisation des sozialen Lebens in den Griff zu bekommen, sahen sich die Genossenschaftsverantwortlichen mit ganz anderen Fragen konfrontiert. Gefordert waren Pragmatismus und Flexibilität, um bei einer sich ständig verändernden Lage und immer wieder neuen Bestimmungen den Betrieb der Genossenschaft zu sichern und die Mitarbeitenden zu schützen. Wie in den meisten anderen Branchen auch hat das zuerst einmal geheissen: Schliessung der Geschäftsstellen, Home-Office wo möglich, Absage aller Veranstaltungen. Davon betroffen waren auch die in dieser Jahreszeit üblichen Generalversammlungen – was viele rechtliche Fragen aufgeworfen und den Zuständigen grosse Mehraufwände beschert hat, unabhängig davon, ob man den Anlass auf später verschoben oder schriftlich durchgeführt hat.
Praktisch alle Baugenossenschaften haben ihre Serviceleistungen auf das absolute Minimum reduziert und nur noch zwingende Reparaturen durchgeführt. Wenn Mitarbeitende dennoch eine Wohnung betreten mussten, habe das oft auf beiden Seiten Unsicherheit ausgelöst, sagt Claudia Strässle, Geschäftsführerin der Wohn- und Siedlungsgenossenschaft Zürich (WSGZ). «Wir haben deshalb immer wieder Kontakt mit Hauswarten aufgenommen, um zu spüren, wie die Stimmung ist, und um sie zu unterstützen.» Doch nicht nur kleinere Reparaturen sind aufgeschoben worden – ganze Sanierungsprojekte wurden teilweise auf unbestimmte Zeit sistiert, um jedes gesundheitliche Risiko zu vermeiden.
Überhaupt haben sich die ändernden Schutz- und Hygienevorgaben in vielen Bereichen als Herausforderung erwiesen. So sahen sich Genossenschaften mit Anfragen von Bewohnern konfrontiert, die etwa Bedenken hatten, Lifte zu benutzen oder sich sorgten, ob Treppenhäuser und Kontaktflächen genügend gereinigt wurden oder zu viele Kinder gleichzeitig auf dem Spielplatz waren. Sicherheitshalber verzichteten einige Gemeinnützige ganz auf Um­züge während des Shutdowns, andere haben keine nahtlosen Wohnungswechsel mehr durchgeführt und dafür auch zeitweilige Leerstände in Kauf genommen. Bei laufenden Bauprojekten galt es, die strengen ­Vorgaben auf der Baustelle einzuhalten und rollend zu planen, was kostenmässig und rechtlich zum Teil hoch­anspruchsvoll war.

Kulante Lösungen bei Mietrückständen
Mit dem Shutdown sind bei manchen Betrieben und Selbständigen von einem Tag auf den anderen sämtliche Einnahmen weggefallen, was rasch zu Zahlungsengpässen bei den Gewerbemieten geführt hat. Das haben auch Genossenschaften zu spüren bekommen, die Gewerberäume vermieten. Trotz rechtlicher Unsicherheit haben sie meist schnell und kulant reagiert. Die ABZ beispielsweise hat vom Lockdown betroffenen Betrieben die Hälfte der Miete für die Monate April, Mai und Juni erlassen und im Bedarfsfall die restlichen fünfzig Prozent bis Ende Jahr gestundet. Davon sei aber nur wenig Gebrauch gemacht worden, so der Kommunikationsverantwortliche Ariel Leuenberger. Drei Monate nach dem Shutdown stellt er fest: «Alles in allem ist die Situation weit weniger schlimm als am Anfang befürchtet.» Auch bei der WSGZ habe es nur wenige schwie­rige Fälle gegeben, sagt Claudia Strässle. Dort habe man jeweils in individuellen Gesprächen Lösungen gefunden. «Am härtesten betroffen ist ein Restaurant. Dieses möchten wir aber nicht als Mieter verlieren, es ist wichtig für unsere Siedlung. Wir gewähren deshalb einen Mietzinserlass.»
Erstaunlich wenig Ausfälle verzeichnen alle angefragten Genossenschaften auch bei den Wohnungsmieten: Bis Ende Juni gab es nur ganz vereinzelt Anfragen von Mitgliedern, die wegen der Corona-Krise in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind. Ein möglicher Grund für die tiefen Zahlen könnte sein, dass Mieterinnen und Mieter in Not über andere Kanäle Finanzhilfen erhalten und die Genossenschaften über die Engpässe nichts erfahren. Für Leute, die sich dennoch melden, wird unkompliziert und individuell eine Lösung gesucht. Denn, so ASIG-Geschäftsführer Reto Betschart: «Wohnsicherheit ist ein zentrales Element unserer Hilfe. Damit unterscheiden sich Genossenschaften besonders in schwierigen Zeiten von anderen Vermietern.» Deshalb auch verfügen vor allem grössere Gemeinnützige oft über Solidaritätsfonds, die auch in solchen Krisenzeiten Überbrückungshilfen bieten.

Was bleibt?
Der Shutdown und seine Nachwehen haben auch die Genossenschaftsbranche in viel­facher Hinsicht betroffen und Verantwort­lichen wie Mietenden viel abverlangt. Daneben wurde aber auch viel Positives mobilisiert: Engagement, Zusam­menrücken, selbstverständliche gegenseitige Hilfe, kreative Ideen, Flexibilität. Was davon bleiben wird, weiss niemand. Vielleicht war der Shutdown ein einmaliges Ereignis, das nur vorübergehend alles durcheinandergewirbelt und uns unserer Gewissheiten beraubt hat. Vielleicht kommt früher oder später eine zweite Corona-Welle. Die Unsicherheit ist deshalb auch in der Branche nach wie vor gross.
Das bestätigt Nina Pfenniger, die sich für den Regionalverband Zürich mit Vertretern der regionalen Genossenschaften zum Thema ausgetauscht hat. Als grösstes Problem sieht sie aktuell das Verbot grösserer Veranstaltungen: «Sie sind nötig für eine breite Meinungsbildung. Generalversammlungen, Planungs- und partizipative Prozesse sind zentral für demokratische Organisationen. Dafür braucht es letztlich den realen Austausch.» Sie weist auf eine weitere Gefahr hin: Auch wenn grosse Versammlungen wieder stattfinden, könnte es lange dauern, bis auch Risikogruppen und ältere Menschen vorbehaltlos daran teilnehmen können. «Wir werden Lösungen finden müssen, damit die eminent wichtige Meinungsbildung stattfinden kann und niemand davon ausgeschlossen wird.» Solidarität und Kreativität sind also weiterhin gefragt.