Sévelins aussergewöhnliche Architektur schafft viel Wohnqualität

Originelles Wohnpuzzle

Wohnen auf einem ehemaligen Industrieareal an schwieriger Lage? Wie gut das geht, zeigt die Société coopérative Logement Idéal. Sie hat in Lausanne ein Projekt realisiert, das mit innovativen Lösungen gutes Wohnen und Austausch fördert – und zwar im geförderten Wohnungsbau.

Von Patrick Clémençon | Bild: Michel Bonvin | Dezember 2019

Fährt man mit der Metro durch den Stadtteil Flon in Lausannes Mitte, sticht das 145 Meter ­lange Wohngebäude direkt neben der Metrolinie mit seiner auffälligen Fassade sofort ins Auge. Zum Bau dieses aussergewöhnlichen Gebäudes an der Avenue de Sévelin 8-16 kam es trotz schwieriger Umstände. Der Standort ist nicht eben ein Ort, an dem man sich Sozial- und Familienwohnungen vorstellen kann: Der Boden ist stark belastet, der Fluss Flon fliesst unter dem Gelände durch und die ­Metrolinie verläuft über die gesamte Länge des Grundstücks. Zudem hat sich das ehemalige Industriequartier, wo sich die Siedlung befindet, in den letzten zwanzig Jahren stark verändert. So ist es heute geprägt durch industrielle, aber auch kulturelle und Wohnnutzungen mit steigenden Mieten, gleichzeitig kämpft es mit Problemen im sozialen Bereich, bei der Sicherheit und mit Prostitution.
Trotzdem wagte die Société coopérative Logement Idéal das Abenteuer, als sie erfuhr, dass die Stadt Lausanne einen Bauträger suchte, der das Grundstück im Baurecht übernimmt und Wohnungen baut. Sie liess sich auch nicht abschrecken vom schwierigen Terrain; das Grundstück ist sehr schmal und erforderte aufwändige Vorbereitungsarbeiten, weil der Boden saniert und mit zweihundert Pfählen stabilisiert werden musste. «Abgesehen davon ist der geförderte Wohnungsbau in Lausanne gespickt mit Vorschriften, Kosten- und Flächenvorgaben. Aber wahrscheinlich haben uns genau diese Einschränkungen dazu angespornt, wirklich originelle Lösungen zu finden», sagt Architekt Julien Fornet.
Eine dieser Lösungen etwa ist das riesige, gebäudeumhüllende «Aussenskelett» aus vor­ge­fertigten Betonelementen. Diese sind wie ein Puzzle zusammengesetzt, mit zahlreichen Öffnungen in der Fassade, die den Blick freigeben auf breite Korridore auf der Nordseite und grosse Terrassen im Süden. So werden vielfältige, durchlässige Übergangsräume zwischen der eher feindlichen städtischen Umgebung und den privaten Wohnungen geschaffen. «Von aussen sieht das Gebäude aus wie eine Festung, aber sobald man die Schwelle passiert und durch die Gänge geht, fühlt man sich geschützt und geniesst gleichzeitig gute Ausblicke in die Umgebung», sagt Philippe Bovet, Präsident von Logement Idéal. Die gestaffelte Anordnung der überhohen Terrassen gewährt zudem Sichtschutz und Privatheit, lässt aber eine gute Besonnung der Wohnungen zu.

Begegnungszonen
Im Januar 2019 konnten die siebzig geförderten Wohnungen bezogen werden; sie entsprechen einem grossen Bedarf in diesem Segment. Im Erdgeschoss sind Hand­werks­betriebe und ein Restaurant angesiedelt, in dem Menschen im Rahmen einer sozialen Wiedereingliederung arbeiten. In den vier Stockwerken darüber befinden sich Wohnungen mit zweieinhalb bis viereinhalb ­Zimmern. Um die Begegnung zwischen den ­Bewohnenden zu fördern, wurden die ­Gänge sehr grosszügig gestaltet und mit begrünten Anlagen sowie Spielplätzen mit Kletterturm und Rutsche ausgestattet. Auch grossflächig verglaste Waschküchen laden dazu ein, zu verweilen und mit Nachbarn zu plaudern.
Dank strikter Rationalisierung des Bausystems konnte kostensparend gebaut werden; dennoch wurde auf Ausführungsdetails geachtet. So reduzieren etwa schalldämmende Putze die Lärmbelastung auf Gängen und Terrassen, und die Räume punkten mit überdurchschnittlichen Höhen. Auch die Bewohner schätzen die Qualitäten. Auf einem Gebäuderundgang bringt es ein Mieter auf den Punkt: «Man fühlt sich hier wohl, die Wohnungen sind toll!» Das sehen auch Fachleute so: Sévelin wurde nicht nur beim Verbandswettbewerb ausgezeichnet, sondern gewann unlängst auch einen Westschweizer Immobilienpreis.