Veränderungskonferenz verhilft zu besser passenden Wohnungen

Viele gewinnen, niemand verliert

Was soll eine Genossenschaft tun, wenn sich die Wohnbedürfnisse in ihren Siedlungen verändern? Eine einfache, aber clevere Antwort auf diese Frage hat die Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1 mit der «Veränderungskonferenz». Die Idee kam aus der Bewohnerschaft.

Von Liza Papazoglou | Bild: Renate Wernli | Dezember 2019

Ab und zu steigen sie in den Ring, sozusagen. Um mit Sportsgeist einen Kampf auszutragen, der nicht jemanden zum Sieger, sondern alle zu Gewinnerinnen machen soll. Dafür legen sie sich ins Zeug, diskutieren, vergleichen, streiten, verhandeln. Das Besondere dabei: Sie erarbeiten gemeinsam neue Lösungen – und bekommen am Schluss, wenn alles gut läuft, alle eine andere Wohnung. Eine, die besser ihren Bedürfnissen entspricht, weil sie zum Beispiel über mehr oder weniger Zimmer verfügt, barrierefrei oder ruhiger ist oder einfach mehr Licht hat.
Sie, das sind die Bewohnerinnen und ­Bewohner der Kraftwerk1-Siedlung Hardturm in Zürich West. Wünschen dort mindestens drei Parteien einen Wohnungswechsel, organisiert die Genossenschaft eine «Veränderungskonferenz» (Väk) – ein strukturiertes Verfahren, in dem Umzugswillige gemeinsam mögliche Rochaden aushandeln. Eine patente Lösung auf eine Frage, die früher oder später jede Genossenschaft umtreibt: Was tun, wenn sich die Wohnbedürfnisse der Bewohnenden ändern, weil zum Beispiel Kinder hinzukommen oder ausfliegen, die Mobilität schwindet, eine Beziehung in die Brüche geht oder die Miete nicht mehr zu stemmen ist? Und wie dabei die Ansprüche unter einen Hut bringen, Wohnsicherheit zu gewährleisten und gleichzeitig die Belegungsvorschriften einzuhalten?

Aus der Not eine Tugend machen
Üblicherweise landen solche Fälle bei Genossenschaften auf einer Warteliste und werden administrativ verwaltet. Gerade in kleineren Siedlungen können aber innert nützlicher Frist oft keine Alternativen angeboten werden. Das kann bei Betroffenen zu Frust und manchmal auch zum Vorwurf führen, Wohnungsvergaben erfolgten intransparent und unfair. Das war auch in der ersten Kraftwerk1-Siedlung nicht viel anders, erinnert sich Lukas Meyer. «Die Frage, wie man Wohnungen gescheiter vergeben soll, wurde lange heftig diskutiert. Unsere Siedlung hat nur 70 Einheiten, da ist es schwierig, allen Bedürfnissen gerecht zu werden.»
Der 57-Jährige ist seit Anbeginn Mitglied bei Kraftwerk1 und «Miterfinder» der Väk. Die Genossenschaft wurde 1995 gegründet und hat dem genossenschaftlichen Wohnen und Bauen seither einige frische Impulse gegeben. Mit ihrer 2001 bezogenen ersten Siedlung setzte sie nicht nur in Sachen Gemeinschaftsarchitektur und Nachhaltigkeit neue Massstäbe, sondern auch mit dem Bekenntnis zu Selbstorganisation und Mitbestimmung der Bewohnenden. Kein Wunder also, dass diese gerade beim wichtigen Thema Wohnungswechsel ein Wörtchen mitreden wollten. Entschied darüber anfänglich noch die Geschäftsleitung, verlangten die Mitglieder schon bald eine Vertretung in der Vermietungskommission. Auch experimentierte man mit einer Wohnungstauschbörse, die aber nicht überzeugte. Weitere Diskussionen folgten, die schliesslich 2013 zu einem Antrag von Lukas Meyer führten: Die Väk war geboren. Ihr Ziel: Fairness und bessere Lösungen für möglichst viele Mitglieder.

Anspruchsvolles Verfahren
Die Idee der Väk ist an sich einfach, die Umsetzung allerdings anspruchsvoll – organisatorisch, aber auch zwischenmenschlich. In einer ersten Sitzung treffen sich alle Wechselinteressierten, um eine Auslegeordnung zu machen – welche Wohnungen stehen zur Dis­kussion? Wer möchte weshalb umziehen? Entsprechen sich Wünsche und Angebote? Bei solchen Treffen kommen schon mal Emotionen hoch und brechen Konflikte auf. «Wohnen ist elementar und sehr persönlich. Die ureigensten Bedürfnisse offenzulegen und dafür einzutreten, ist herausfordernd», sagt Marianne Gadient, die als Immobilienbewirtschafterin bei Kraftwerk1 die Väk organisiert. Die Treffen werden deshalb von einer externen Moderatorin begleitet, die dafür sorgt, dass der Prozess fair bleibt und nicht aus dem Ruder läuft. Ursula Athanassoglou Mathez zu ihrer Rolle: «Es müssen sich alle gleichberechtigt Gehör verschaffen und ihre Anliegen einbringen können.» Wenn Blockaden drohten, helfe sie, diese zu lösen und Alternativen zu entwickeln.
Es sei schon vorgekommen, dass bereits in dieser Phase einige oder sogar alle ausgestiegen seien, weil sie merkten, dass keine der Wohnungen für sie in Frage käme, erzählt Marianne Gadient. Das sei auch in Ordnung, die Teilnahme sei ja freiwillig und niemand gezwungen, in eine schlechtere Wohnsituation zu wechseln. Bleibt man aber im Rennen, besichtigt man in den Folgewochen passende Wohnungen und deponiert seine definitiven Umzugswünsche.

Fairer Prozess
Alle, die noch wechselwillig sind, erarbeiten dann an einem zweiten Treffen gemeinsam Varianten für mögliche Rochaden. Und zwar so viele, wie sie möchten. Marianne Gadient: «Es gab schon alles – von gar keiner Einigung über einen oder zwei Vorschläge bis zum Extremfall mit einem Dutzend möglicher Wechselvarianten.» Auch an solchen Sitzungen gab es schon rote Köpfe und schwierige Situationen. Aber auch gute, unkonventionelle Vorschläge, dank denen zum Beispiel gleich acht Parteien zu einer neuen Wohnung oder gar neuen Wohnformen kamen. Wie etwa die Familie, die mit zwei Kindern dank der Väk von einer Drei- in eine Fünf­einhalbzimmerwohnung umziehen konnte und seither ein Zimmer an eine geflüchtete Eritreerin vermietet.
Welche der von der Väk eingereichten Varianten zum Zug kommt, entscheidet die Vermietungskommission. An ihr liegt es, zu beurteilen, welche Anliegen wie dringlich sind und welche Lösung für die meisten Parteien grösstmögliche Vorteile bringt. Erklärtes Ziel von Kraftwerk1 ist dabei, möglichst viele Wechsel zu ermöglichen, so dass der Wohnraum optimal genutzt wird. Das gelingt auch meist. Und wer nicht zum Zug kam, darf so lange an weiteren Väks teilnehmen, bis er oder sie eine passende Wohnung hat.
Gewiss: Der Aufwand für die Väk ist beträchtlich; 200 zusätzliche Stunden musste Marianne Gadient bei der letzten grossen Rochade aufwenden. Dennoch lohne sich die Väk auf jeden Fall: «Die Bewohnenden sind zwar gefordert, sie lernen sich aber auch besser kennen und wer­den letztlich zusammengeschweisst. Insgesamt steigt die Zufriedenheit. Und die Genossenschaft kriegt mit, wo die aktuellen Bedürfnisse sind. So kann man sich gemeinsam weiterentwickeln.» Demnächst soll die Väk denn auch in der zweiten Kraftwerk1-Siedlung Heizenholz zum Einsatz kommen. Auch Lukas Meyer ist von der Väk nach wie vor überzeugt. «Sie führt zu weniger Frust, weil die Leute zu Akteuren werden, mitgestalten und Verantwortung übernehmen. Man kann sie eigentlich nur allen Genossenschaften weiterempfehlen!»