Gemeinschaftlich Wohnen geht auch im Südkanton – mit ein paar Hürden

Unverhofft Pionier:innen

Baugenossenschaften gibt es im Tessin kaum. Frische Impulse liefert das Projekt von «Viv Insema»: Pragmatisch und gegen alle Widerstände hat die Gründergruppe ihre Vision vom guten Zusammenleben auf ökologischer Basis vorangetrieben. Mit Erfolg: 2022 wurde ihre Überbauung in Tegna mit 17 Wohnungen und gemeinschaftlichen Räumen bezogen.

Text: Liza Papazoglou | Bilder: Balz Kubli | August 2023

«Viele Leute hier dachten wohl, wir seien so eine Art Hippiekommune wie in den 60er-Jahren. Alle zusammen in der Badewanne oder nackt im Garten». Adrian Gassmann muss lachen. Der ehemalige Unternehmer ist Vorstandsmitglied und Mitinitiant der Genossenschaft «Viv Insema» (Tessiner Dialekt für «zusammenleben»). Dass das Projekt mit der Vision vom gemeinschaftlichen Wohnen auf solche Vorurteile stossen würde, hätte sich die kleine Gruppe Gleichgesinnter nicht träumen lassen, als sie 2012 die Genossenschaft gründete. «Wir waren hier offensichtlich Pionier:innen – aber unfreiwillige», sagt Gassmann.
Eine dubiose Kommune schwebte ihm und seinen Mitstreiter:innen gewiss nie vor. «Eigentlich suchten wir einfach eine Lösung für ein Wohnprojekt, wo Gemeinschaft gepflegt wird, aber auch individuelle Bedürfnisse Platz haben.» Der Deutschschweizer lebte mit seiner Partnerin damals in Tegna, einem kleinen Ort unweit von Locarno am Eingang zum Centovalli, und suchte nach einem grös­seren Haus, in das auch deren Mutter einziehen konnte. Menschen aus ihrem Umfeld gesellten sich dazu. «Am Anfang kamen wir gar nicht auf die Idee, eine Genossenschaft zu gründen. Erst allmählich hat sich abgezeichnet, dass dies die ideale Form für unser Vorhaben ist.» In der Deutsch- und Westschweiz, wo man sich Inspirationen holte, sind solche Projekte gang und gäbe. Im Tessin allerdings existiert kaum Vergleichbares. Entsprechend beflügelte das Vorhaben die Fantasie vieler Einheimischer.

Etwa 25 Erwachsene und zehn Kinder leben aktuell in den drei Gebäuden von Viv Insema. Am Gemüsegarten können sich alle beteiligen, die ein Stück Garten bewirtschaften möchten.

Normal und doch besonders
Hippiekommune? Ein Besuch der Genossenschaft in Tegna führt zu drei Wohnhäusern mit insgesamt 17 Wohnungen; die kleinsten haben zweieinhalb, die grössten fünfeinhalb Zimmer. Bezogen wurden sie im Frühling 2022. Die Gebäude stehen am oberen Dorf­rand auf einem schmalen Landstreifen versetzt im steilen Hang und fügen sich mit ihren gelben Fassaden unauffällig in die ortstypische Bauweise ein. Erstellt wurden sie weitgehend in Holzständerbauweise und mit vielen natürlichen Materialien nach baubiologischen Kriterien. Vollflächige Solaranlagen auf den Süddächern liefern in Kombination mit einer Wärmepumpe den Strom für Warm­wasser und Heizung. Ins Auge fällt der fröhlich bunte Aussenraum mit vielen einheimischen und essbaren Pflanzen. Er wird nach den Kriterien der Permakultur bewirtschaftet, die natürliche Kreisläufe berücksichtigt, und geht in einen üppigen Wald über, der bis zum grossen Sandstrand an der Maggia hi­nun­ter reicht.
Angelegt und bepflanzt wird das weitläufige Gelände von den Genossenschafter:innen gemeinsam, unter Anleitung eines kundigen Bewohners. Neben dem Sitzplatz von Vorstandsmitglied Heinz Schmidli reifen gerade grosse Himbeeren, am Weg über den Häusern hat sich jüngst ein Feigenbaum zu anderen Obstbäumen gesellt. Entstanden ist auch ein Gemüsegarten, an dem sich alle, die ein Stück Garten bewirtschaften möchten, beteiligen können. An den regelmässigen Gartentagen greift zu Hacke, Giesskanne und Komposteimer, wer gerade da ist. Die Selbstorganisation, so Schmidli, funktioniere sehr gut: «Das läuft bis jetzt alles bestens auf freiwilliger Basis.» Der Gartentag sei attraktiv, die Leute machten gerne mit. Ein schönes Erlebnis sei das. «Ein Team kocht jeweils ein Essen, danach sitzen wir meist noch zusammen.»

Wichtig waren der Genossenschaft eine ökologische Bauweise und Energieversorgung. Der Aussenraum wird gemäss den Prinzipien der Permakultur bewirtschaftet, die natürliche Kreisläufe berücksichtigt.

Ungezwungene Gemeinschaft
Freiwilliges Einbringen und gegenseitiger Respekt: Das war und ist der Genossenschaft wichtig, betont auch Gassmann. «Wir wünschen uns eine gute Gemeinschaft – aber freiheitlich und ohne jeden Zwang.» Zweimal im Jahr finden Putztage für die gemeinsamen Räumlichkeiten statt, jeden Monat gibt es ein Forum, an dem Ideen, Wünsche und Probleme besprochen werden können. Die, die da seien, nähmen in aller Regel auch teil. Die aktuelle Bewohnerschaft besteht aus etwa 25 Erwachsenen und zehn Kindern – ein ziemlich bunter Mix. Dennoch, so Schmidli, herrsche ein gutes Klima und ein gutes Miteinander. «Jede und jeder bringt das ein, was sie oder er kann.» Das vertrage auch mal Differenzen.
Mitmachen und mitgestalten können alle. Ein Gemeinschaftsraum mit Küche und Terrasse und eine Werkstatt waren von Anfang an vorgesehen; der Pizzaofen und eine Outdoor-Metallwerkstatt, der zwei gedeckte Parkplätze weichen mussten, verdanken sich der Initiative von Genossenschafter:innen. Aus einem samstäglichen Morgenkaffee, den ein Bewohner einen Monat lang durchführen wollte, hat sich ein ungezwungenes Ritual entwickelt, das gut besucht ist und auch den einen oder anderen Gast anzieht, neben Freund:innen von Bewohnenden zum Beispiel auch den Gärtner, der der Genossenschaft bei den groben Gartenarbeiten beisteht.

Einsprachen und Widerstände
Im Moment läuft alles rund. Darüber sind alle froh, denn die Genossenschaft hat eine strenge und hürdenreiche Zeit hinter sich. Besonders herausfordernd war ein Nachbar, der das Vorhaben immer wieder mit Einsprachen überzog und um Jahre verzögerte. «Wir wussten zwar bereits, als uns das Land zum Kauf angeboten wurde, dass mit Widerstand zu rechnen ist – ein Nachbar wollte das Grundstück selber erwerben und hatte bis dahin erfolgreich alle Interessierten vertrieben, eine andere fürchtete um ihre Aussicht. Dass sich das aber über so viele Jahre hinziehen würde, hätten wir nicht gedacht», erzählt Dagmar Setz Gassmann, die ebenfalls zum festen Kern von Viv Insema gehört und Vorstandsmitglied ist.
Der Vorstand war sich zwar sicher, die Baubewilligung zu erhalten. Um den Pro­jekt­gegner:innen aber möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, hielt man sich strikte an Regelbauvorschriften. Das allerdings schränkte den Gestaltungsspielraum stark ein und verhinderte etwa flexibel zuschaltbare Zimmer. «Wir wollten nicht riskieren, dass solche Elemente, die im Tessin nicht bekannt sind, die Bewilligung gefährden», sagt Adrian Gassmann. Jedes Planungsdetail, jeder Baufortschritt, jede Aktivität der jungen Genossenschaft stand unter Dauerbeobachtung, viele Beschwerden an die Gemeinde gingen ein. Eine solche führte etwa dazu, dass man wegen der Bauhöhe Loggien statt Balkone erstellen musste, was die Wohnungen de facto ein Zimmer kostete – zulasten von mehr Familienwohnungen.

Gemeinschaftsraum und Werkstatt waren von Anfang an vorgesehen; auf Initiative von Bewohnenden ergänzen unter anderem eine Outdoor-Metallwerkstatt und ein Pizzaofen die Ausstattung.

Mehr Ältere, weniger Familien
Fast noch schwerwiegender war, dass durch die Verzögerungen viele Interessierte wieder absprangen. «Ganz am Anfang, als wir die ersten Informationsveranstaltungen über unser Projekt durchführten, wollten viele Tessiner:innen und auch viele Familien mitmachen. Wir hatten eigentlich recht rasch eine perfekte und gut gemischte Besetzung, die genau zur Anzahl geplanter Wohnungen passte», sagt Dagmar Setz Gassmann. Nur können Familien mit Kindern meist nicht lange warten, wenn sie eine grössere Wohnung brauchen. Eine nach der anderen meldete sich in der Folge wieder ab. Bei Baubeginn Ende 2019 war gar keine mehr übrig, so dass sich Viv Insema intensiv darum bemühen musste, eine gute Mischung der Bewohnenden zu erreichen. Aktuell leben nun neben vielen meist älteren Paaren und Singles vier Familien in der Genossenschaft.
In einem weiteren Punkt hat Viv Insema nicht ganz das angestrebte Ziel erreicht. Etliche Tessinerinnen und Tessiner zeigten sich zwar zu Beginn durchaus interessiert am Projekt. Als es aber um die Finanzierung ging, stiess das System mit Anteilscheinen und Pflichtdarlehen auf Unverständnis. Adrian Gassmann: «Man kennt dieses Konzept hier überhaupt nicht. Die Leute investieren Geld in Eigentum, aber nicht in eine Genossenschaft.» Sie könnten nicht nachvollziehen, weshalb sie eine Miete bezahlen und zusätzlich Kapital einbringen sollten, auch wenn sie dadurch Wohnsicherheit und die Vorteile der Gemeinschaft hätten. Das genossenschaftliche Wohnmodell hat es deshalb schwer im Tessin (siehe Box). So leben bei Viv Insema nun mehrheitlich Menschen mit Wurzeln nördlich der Alpen. Das sprachliche Ankommen im Südkanton erleichtert ihnen ein Mitbewohner, der in Mailand aufgewachsen ist und den «Zücchin», wie die Deutschschweizer im Tessiner Dialekt heis­sen, Italienischunterricht erteilt.

Angekommen
Die Genossenschaft legt Wert auf eine möglichst gemischte Bewohnerschaft und will auch Menschen berücksichtigen, die nicht so viel Geld haben. Deshalb, so Adrian Gassmann, habe man die Pflichtdarlehen flexibel gehandhabt. «Einige haben mehr bezahlt als die Zielsumme von 100 000 Franken, einige deutlich weniger.» Dank zahlreichen zinsfreien Darlehen aus dem Freundeskreis sowie zinsgünstigen Beiträgen vom Fonds de Roulement des Bundes und vom Solidaritätsfonds des Verbands Wohnbaugenossenschaften Schweiz konnte die Finanzierung des 9,5 Millionen Franken teuren Projekts schliesslich gestemmt werden. Dennoch musste wo möglich gespart und sehr kostenbewusst gebaut werden. Den grosszügigen, hellen Wohnungen sieht man das nicht an. Die Genossenschafter:innen profitieren von viel Wohnqualität und einer wunderbaren Aussicht ins Grüne.
Viv Insema ist angekommen. Die anfängliche Aufregung über das ungewöhnliche Wohnprojekt hat sich grösstenteils gelegt. Heinz Schmidli: «Wir sind immer noch vorsichtig, vermeiden Lärm und laute Feste. Aber man hat sich an uns gewöhnt. Und es kommt uns auch viel Wohlwollen entgegen.» Auch Dagmar Setz Gassmann ist positiv: «Uns ist es ganz wichtig, nicht gegen etwas zu kämpfen, sondern uns für etwas einzusetzen. So konnten wir das hier positiv durchziehen.» Nun höre man auch Sätze wie: «Das sind glaub noch ganz Nette». Das Beispiel könnte im Tessin tatsächlich noch Schule machen.

Baugenossenschaften im Tessin

Die einzige grössere Anbieterin von gemeinnützigen Wohnungen im Tessin ist die Alloggi Ticino SA, die verteilt über den Kanton mehr als tausend Woh­nungen be­sitzt. Ansonsten gibt es nur ganz wenige, ältere und kleine Baugenossenschaften. Dazu zählt vor allem eine Handvoll Genossenschaften des Bundespersonals, die vor Jahrzehnten im Zusammenhang mit dem Bahnbau entstanden waren. Diese scheinen aber nicht daran interessiert zu sein, sich zu vergrös­sern und so mehr Familien zu einem angemessenen Mietpreis Wohn­raum anzubieten, sagt Monique Bosco-von Allmen, Präsidentin der Tessiner Ver­bands­sektion von Wohnbaugenossenschaften Schweiz.
Derweil machen im Tessin hohe Mieten der Bevölkerung mehr und mehr zu schaffen. «Leute mit bescheidenem Einkommen können sich das Wohnen in Städten und Agglomerationen kaum mehr leisten. Es gibt mittlerweile Einheimische, die deshalb nach Italien ziehen und in die Schweiz zum Arbeiten pendeln», so Bosco-von Allmen. Und viele Junge entscheiden sich für einen Umzug in die Deutschschweiz, wo sie besser verdienen. So nimmt im Tessin die Überalterung noch rascher zu als im Rest des Landes. Verlässliche Daten zur Wohnsituation und Leistbarkeit des Wohnens im Kanton fehlen aber bislang. Bosco-von Allmen: «Weder die Politik noch die Behörden scheinen sich wirklich für das Problem zu interessieren.» Statt nach­haltige Lösungen zu ermöglichen, bauten die Gemeinden lieber teure Altersheime oder subventionierten Bedürftige. Für den gemeinnützigen Wohnungsbau fehlten das Verständnis und das Wissen: «Man kennt Konzept und Instrumente wie das Vorkaufsrecht oder Baurechte zu wenig. Es braucht noch grosse Anstrengungen, um den Vorteil von Genossenschaften zu erklären und zu vermitteln, dass Gemeinden Projekte, die etwas für die Gemeinschaft tun, aktiv fördern sollten.»
Konkrete neue Projekte wie Viv Insema könnten helfen, das Modell bekannt zu machen. Weitere innovative Vorhaben sind aktuell in Lugano, im Mendrisiotto und in Chias­so in der Pipeline. Bosco-von Allmen hofft, dass sie erfolgreich umgesetzt werden können und mit ihrer Ausstrahlung dem gemeinnützigen Wohnungsbau im Tes­sin Schub verleihen.