Mietshäuser Syndikat baut auf dem Areal Lysbüchel Süd in Basel erstmals selbst

Der menschliche Massstab

Klimafreundlich, einfach, flexibel, bezahlbar, gemeinschaftlich: Das «Abakus»-Gebäude zeigt auf, wie zukunftsfähiges Wohnen aussehen könnte. Der erste Neubau der Genossenschaft Mietshäuser ­Syndikat ist Teil der aus­sergewöhnlichen Blockrandüberbauung auf dem Lysbüchelareal im Basler Quartier St. Johann, wo mehrere ­Baugenossenschaften innovative nachhaltige Lösungen entwickeln.

Von Liza Papazoglou | Bilder: Daisuke Hirabayashi, Michele Limina | 2022/04

Schlicht und kühl wirkt die weisse Wellblechfassade, wenn man sich dem Beckenweg 7 in Basel nähert. Doch wer den mit Holzzementplatten verkleideten Eingangsbereich betritt, trifft auf zahlreiche Kindertrottinetts und Fahrräder mit Anhängern. Sie zeugen ebenso vom fröhlich-bunten Leben hier wie die wild zusammengewürfelten Briefkästen – jeder ein Unikat, denn statt auf eine uniforme Lösung ab Stange hat man auf die Wiederverwendung gebrauchter Boxen gesetzt.
Der Eingangsbereich steht exemplarisch für die Grundideen, die das im Juli 2021 bezogene Wohnhaus Abakus prägen: Eine einfache, funktionale Konstruktion mit einem möglichst ge­rin­gen Ressourcen- und Treib­hausgasver­brauch bietet eine Plattform, auf der sich vielfältiges, gemeinschaftliches Woh­nen ent­falten kann. Mit viel Gestaltungsspielraum und Räumen, die sich die Menschen aneignen und die sie flexibel weiterentwickeln.

Das Treppenhaus ist verbindendes Herzstück des Hauses und dient als Begegnungsort. Die filigrane Stahlkonstruktion erlaubt Durchblicke. Die Wohnungen sind gegenüber dem Treppenhaus ebenfalls offen durch eingelassene Fenster und Türen mit Mattglas.

Ein Areal, viele Genossenschaften
Diese Anliegen waren der Initiativgruppe wichtig, die sich 2018 zusammenfand, um sich für eine Parzelle auf dem Areal zwischen Lothringer-, Becken- und Elsässerstrasse zu bewerben. Das Areal gehört der Stiftung Habitat, die das ehemalige Gewerbegebiet 2013 kaufte und, ähnlich wie schon auf der Erlenmatt Ost, gemeinsam mit Baugenossenschaften entwickelt und bebaut. Dabei sind wiederum besonders innovative nachhaltige Projekte gefragt. Die Stiftung hat sich dafür entschieden, auf einem Teil des Geländes eine grosse Blockrandbebauung mit autofreiem Innenhof zu realisieren; diese sollte aber nicht etwa durch einen einzelnen Bauträger erstellt werden, sondern wurde in elf Kleinparzellen aufgeteilt. Zwei davon nutzt Habitat selbst, die übrigen hat sie an Baugenossenschaften im Baurecht abgegeben.
Abakus zählt zu den Projekten, die mit ihrem Konzept überzeugten. Es ist nicht nur architektonisch aussergewöhnlich, sondern erprobt auf kleinstem Raum auch in Sachen sozialer Nachhaltigkeit interessante Ansätze. «Wir wollten Wohnungen, die sich flexibel – aber ohne bauliche Eingriffe – anpassen lassen, wenn sich die Lebenssituation ändert. Zudem möchten wir auch Menschen mit wenig Geld Zugang zu genossenschaftlichem Wohnraum ermöglichen», sagt Jonathan Hermann. Er gehört zum Team des planenden Büros Stereo Architektur, ist Mit­glied der Initiativgruppe und Vor­stands­mit­glied der Basler Genossenschaft Miets­häuser Syndikat (MHS), der sich Abakus angeschlos­sen hat. Oft sei beides zwar erwünscht, funk­tioniere in der Praxis aber mässig – sind Wohnungen erst einmal gebaut, werden sie nur selten nachträg­lich verändert. Und das bei Neubauten hohe An­teil­scheinkapital können zum Beispiel Studierende und Menschen mit tiefbezahlten Jobs oder Migrationshintergrund nicht aufbringen.

Horizontale und vertikale Wohnformen
Abakus bietet deshalb zwei unterschiedliche Wohnformen an, die sich ergänzen: Das Grundgerüst im schmalen sechsstöckigen Gebäude besteht aus fünf übereinanderliegenden 3½-Zim­mer-Wohnungen mit identischen Grundrissen. Daneben liegt je eine Wohneinheit mit separatem Eingang, zwei Zimmern und einem gemeinsamen Bad. Diese Einheiten bilden über das ganze Gebäude eine vertikale 10-Zim­mer-WG mit Gemeinschaftsraum samt Grossküche im Erdgeschoss. Verbunden wird alles über ein offenes und luftiges Stahltreppenhaus auf der Hofseite, das in die Balkone übergeht und zuoberst in der gemeinsamen Dachterrasse mündet. Es dient nicht nur als Begegnungs- und Aufenthaltszone, sondern hilft auch, die Energiebezugsfläche pro Person zu beschränken – eine der Auflagen von Habitat.
Wächst eine Familie und benötigt mehr Wohn­raum, kann ganz einfach ein WG-Zimmer zugeschaltet werden. Ein Schraubenzieher reicht dafür: In die Türöffnungen sind dicke Platten mit akustischer Dämmung eingefügt, die lediglich losgeschraubt und in der nächsten Türöffnung wieder eingeschraubt werden müssen. «Bei WGs finden ja immer wieder Bewegungen statt. Solche Wechsel lassen sich nutzen, um die Grundwohnungen zu vergrössern oder bei Bedarf auch wieder zu verkleinern», erklärt Hermann. Vierköpfige Parteien können die ganze Etage mieten und haben dann eine 5 ½-Zimmer-Wohnung mit zwei Badezimmern zur Verfügung. Dieser Flexibilität verdankt das Projekt auch seinen Namen: Die Zimmer können genauso leicht verschoben werden wie auf dem alten Abakus-Rechenschieber die Kugeln.

Die Küchen haben die Bewohnenden aus Ikea-Korpussen und eigens produzierten Linoleumfronten selber zusammengebaut.

Faire Lösung für alle Bedürfnisse
Mit diesem Modell geniessen die Wohnungsmieterinnen und Wohnungsmieter – die meisten von ihnen haben sich seit Beginn in der Abakus-Projektgruppe engagiert – hohe Flexibilität und Wohnsicherheit. Im Gegenzug tragen sie die Hauptlast des Anteilscheinkapitals. Pro Wohnung liegt dieses bei 66 000 Franken. WG-Bewohnende zeichnen demgegenüber nur Anteilscheine für 3500 Franken und profitieren von günstigen Mieten: Ein WG-Zimmer kostet netto etwa 540 Franken, Gemeinschaftsraum und freie Nutzung der Dachterrasse inklusive. Die WG-Bewohnenden sind aber ebenfalls Genossenschaftsmitglieder und damit eingebunden in alle Entscheide sowie die Gestaltung des Zusammenlebens. Wie in den meisten Häusern, die sich dem MHS angeschlossen haben, gibt es einen Hausverein, der weitgehend autonom über die Belange seines Hauses befindet. Eine Vermietungskommission entscheidet über die Vergabe aller Wohneinheiten.
«Das Modell funktioniert bis jetzt sehr gut, und wir haben auch die erwünschte Durchmischung erreicht», sagt Hermann. Neben einigen Studierenden gehören zur WG unter anderem auch ein Geflüchteter und eine alleinerziehende Mutter, die mit ihrem Kind zwei Zimmer bewohnt. Bei der Belegung gilt die Zimmer-plus-eins-Regel. Mit Kindern leben aktuell 25 Personen im Haus, was deutlich über der Mindestbelegung liegt, die von der Stiftung Habitat vorgegeben ist.

Die Planungsgruppe legt Wert auf eine hohe Nachhaltigkeit und wollte von Anfang an einen Holzbau erstellen. «Als wir mit der Planung begannen, gab es noch kaum Referenzobjekte. Wir mussten selbst nach guten Lösungen suchen», sagt der Architekt. Dabei habe man auch merken müssen, dass Ökonomie und Ökologie teils Hand in Hand gingen, teils ein Widerspruch seien. Schliesslich wurde ein Kompromiss gefunden, der zwar nicht ganz ohne Einsatz von Beton auskommt, diesen aber minimiert. Die vertikale Tragkonstruktion besteht aus Holz-Fertigelementen, die Innenwände sind aus Fichtenholz gefertigt.
Aus Kostengründen haben die Planer auf teure Holz­decken verzichtet. Stattdessen wurden vorfabrizierte, 16 Zentimeter dicke Betonhohldielen ver­wendet, wie sie normalerweise im Industriebau zum Einsatz kommen. Sie werden in Serienproduktion gewalzt, sind günstig und materialoptimiert. Hermann erklärt die Vorzüge: «Die Betonmenge ist etwa gleich gross wie bei einer Holzbeton-Verbunddecke – mit dem Unterschied, dass das Holz eingespart und durch Armierung ersetzt wird.» Ausserdem habe man mit geringem Materialeinsatz die nötige Speichermasse und eine günstige Lösung für den Trittschall erreicht. Im sieben Zentimeter dicken Unterlagsboden sind die Bodenheizungsleitungen eingebaut.

Reduktion aufs Wesentliche
Weitere Maximen bei der Planung waren eine sorgfältige Materialwahl und maximale Einfachheit. Die einzelnen Bauteile sollten möglichst sortenrein und austauschbar sein, unterhaltsarm und sparsam im Betrieb. So ist der rohe Zementboden nur gerade imprägniert, die tragenden Holzwände wurden mit Lauge aufgehellt. Gegenüber dem Treppenhaus und dem Nebenhaus, wo aus Brandschutzgründen Gipsfaserplatten angebracht werden mussten, ist ein einfacher Gipsglattstrich aufgebracht. Akzente setzen die Holzfenster. Das Stahltreppenhaus ist unverzinkt, was eine Menge CO2 einspart. Auf komplizierte Haustechnik wurde grundsätzlich verzichtet, ebenso auf eine kontrollierte Lüftung: «Low-tech-Lösungen sind viel effizienter. Eine konventionelle Abluftlösung im Bad funktioniert einwandfrei, wenn man die Hausbewohnenden entsprechend instruiert», sagt Hermann. Konsequent war auch die Wahl von sichtbaren Aufputzleitungen für Elektro- und Sanitäranlagen. In Kombination wirken all diese Massnahmen harmonisch und ehrlich, mit sicht- und spürbaren Materialien, die gut zusammenspielen und ruhige, angenehme Räume ergeben. Farbtupfer setzen dunkelrote und olivgrüne Zementfliesen in Bad und Korridor.
Eine originelle Lösung wurde auch für die Küchen gefunden, die bei Kleinprojekten als Kostentreiber gelten. An zwei Wochenenden hatten die angehenden Bewohnerinnen und Bewohner aus einem vorbereiteten Bausatz, bestehend aus Ikea-Korpussen und eigens produzierten Linoleumfronten, die Küchen selber zusammen- und eingebaut. «Das war eine sehr günstige Lösung, die dennoch ästhetisch überzeugt», findet der Architekt. Zudem stärkten solche Aktionen die Identifikation mit dem Bau und das Zusammengehörigkeitsgefühl.

Die einfache Wellblechfassade führt in ein lebendiges Haus. Die Briefkästen wurden ­wiederverwendet statt ab Stange gekauft.

Mehr Mut zu kleinen Projekten
Vorgegeben hat die Stiftung Habitat für alle Baurechtsnehmer, dass sie sich an die zwölf Aus­schlusskriterien von Ecobau halten. Auf Zertifizierungen oder Labels hat man bei Abakus verzichtet. «Uns waren gute Lösungen wichtig, nicht das Branding», sagt Hermann. Das Gebäude ist ans Fernwärmenetz der städtischen Kehrichtverbrennungsanlage angeschlossen und verfügt auf dem Dach über eine PV-Anlage, die gleichzeitig als Regenschutz für die Sitzplätze darunter dient. Alle Baugenossenschaften auf dem Areal haben sich zu einer ZEV zusammengeschlossen, einem «Zusammenschluss zum Eigenverbrauch», die Anlage wird von der ADEV Energiegenossenschaft betrieben.
Finanziert wurde das Projekt mit Hypotheken der Alternativen Bank Schweiz, ausserdem erhielt es 200 000 Franken Darlehen vom Fonds de Roulement und 80 000 Franken von der Stiftung Solidaritätsfonds. Die aktuellen Wohnungsmieten liegen mit gut 1600 Franken deut­lich unter dem Kostenvoranschlag und dürften laut Hermann noch nach unten angepasst werden. Auffallend günstig sind auch die Nebenkosten. Die Mieterinnen und Mieter freuen sich aber nicht nur darüber. Hermann: «Alle sind super zufrieden hier. Die Anlage mit privaten Rückzugsräumen und viel gemeinschaftlichen Flächen funktioniert.» Sein Fazit fällt generell sehr positiv aus. Das Projekt sei spannend und motivierend gewesen. Zwar bedurfte es eines ge­wissen Abstimmungsaufwands zwischen den beteiligten Bauträgern, die gleichzeitig ihre Baustellen betrieben. Man sei im Prozess aber auch zusammengewachsen. «Es gibt eine hohe Identifikation innerhalb und zwischen den Häusern», stellt er fest. Die städtebauliche Klein­teiligkeit und die entstandene Vielfalt sieht er klar als Gewinn. Was es nun noch brauche, sei mehr Mut zu solchen Projekten und zum Experimentieren. Wobei eines laut Hermann jetzt schon klar ist: «Wir müssen wieder einfacher bauen.»

Baudaten

Bauträgerin:
Genossenschaft Mietshäuser Syndikat,
Basel
Architektur:
Stereo Architektur, Zürich/Basel
Unternehmen (Auswahl):
Alance AG (Wellblechfassade)
Hürzeler Holzbau AG (Holzbauer)
Knecht AG (Baumeister)
Markus Stolz (Haustechnik)
Stamm AG (Stahlbau)
Umfang:
5 erweiterbare Wohnungen mit 3 ½-­Zimmern, 10-Zimmer-WG,

­Gemeinschaftsraum (67 m2), Dach­terrasse, Musik- und Werkraum,
30 Veloparkplätze, Garten im Innenhof
Baukosten (BKP 1-5):
3,15 Mio. CHF total
4315 CHF / m2 HNF
Mietzinse:
3 ½-Zimmer-Wohnung, 74 m2:
1613 CHF + 110 CHF NK + 37 CHF Solidaritätsbeitrag
66 000 CHF Anteilscheinkapital
WG-Zimmer, 14 m2:
543 CHF + 35 CHF NK + 12 CHF Solidaritätsbeitrag
3500 CHF Anteilscheinkapital

Lysbüchel: Vom Gewerbeareal zum Quartier

Das Lysbüchel war lange ein reines Gewerbeareal im Basler Quartier St. Johann, auf dem Coop ein grosses Verteilzentrum betrieb. 2013 erwarb es die Stiftung Habitat. 2016 verkaufte sie den nördlichen Teil an den Kanton Basel-Stadt, der dort das Quartier VoltaNord mit gemischter Nutzung entwickelt. Das Areal Lysbüchel Süd zwischen Lothringer-, Elsässer- und Beckenstrasse hat die Stiftung behalten, um dort günstigen Wohnraum zu schaffen. Für das 12 400 Quadratmeter grosse Stück Land hat sie zusammen mit der Metron AG ein städtebauliches Konzept erarbeitet, auf dessen Grundlage das Areal in 15 Parzellen aufgeteilt wurde. Zwölf davon hat Habitat im Baurecht an Genossenschaften abgegeben.
Auf elf zusammenhängenden Parzellen entsteht derzeit eine Blockrandüberbauung, die mehrheitlich von Genossenschaften erstellt wird und grösstenteils bereits bezogen ist. Habitat gehören zwei der Gebäude. Auf dem Arealteil daneben wandelt die Stiftung ein ehemaliges Coop-Weinlager in ein Wohnhaus um, zwei Genossenschaften erstellen Neubauten. Einen Altbau konn­te das Mietshäuser Syndikat übernehmen und sanieren. Acht der Genossenschaftsprojekte erhielten aus dem Fonds de Roulement insgesamt gut 3 Millionen Franken Darlehen, weitere 510 000 Franken flossen aus dem Solidaritätsfonds an vier Projekte. Bis Anfang 2024 sollen alle Häuser bezogen sein.

Umfassend nachhaltig
Das Quartier setzt auf soziale und ökologische Nachhaltigkeit. Zu den Vorgaben an die Baurechtnehmenden gehören eine Begrenzung der maximalen Energiebezugsfläche auf 45 Quadratmeter pro Person, die Einhaltung der Kostenmiete nach Zürcher Modell, eine Wohnsitzpflicht sowie die zwölf Ausschlusskriterien von Ecobau. Im Übrigen sollen die Genossenschaften weitere Massnahmen individuell umsetzen. «Wenn man sich selber mit dem Thema auseinandersetzt, nimmt man es ernster und findet auch unkonventionelle Lösungen», sagt Habitat-Gesamtprojektleiter Raphael Schicker. Ob diese Ziele erreicht werden, wird mit Kontrollen überprüft. Eine hohe Durchmischung und Belegungsdichte jedenfalls gibt es jetzt schon. Auch sonst zieht der Projektleiter eine positive Bilanz: «Die Diversität ist überzeugend. Das ist Stadt, wie wir sie kennen, im menschlichen Massstab.» Auch Ivo Balmer, Vorstandsmitglied vom Regionalverband Nordwestschweiz und vom Mietshäuser Syndikat, spricht von einem gelungenen Experiment – auch wenn er zu Beginn wegen der Kleinteiligkeit skeptisch war. «Es hat sich aber gezeigt, dass man bezüglich Kosten und Effizienz absolut mithalten kann mit konventionellen Projekten. Es gibt hier ungemein viel Innovation und Lerneffekte. Dass lokale Gruppen die Stadtentwicklung gestalten, ist eine zukunftstaugliche Perspektive!»

Besichtigung Lysbüchel Süd:
Tag der Genossenschaften, 25. Juni, ab 12.15 Uhr